Institut für Politikwissenschaft

Helmut Martens

 

Aufbrüche und blockierte Reformvorhaben

Gewerkschaftliche Organisationsreformen in den 1990ern

Vortrag auf dem Hattinger Forum 2003, „Organisationslernen in Gewerkschaften – Sind die Gewerkschaften Zukunftsfähig?, Hattingen,19./20.09.2003

 

1.      Einleitung

 

Das Trauerspiel, das die IG Metall im Sommer 2003 aufgeführt hat, ist in der Bundesrepublik Deutschland von einer Medienöffentlichkeit, für die inzwischen in der Frankfurter Rundschau

das Wort ihrer "FDP-isierung" geprägt worden ist, in einer Weise aufgenommen worden, dass es, bei wenigen Ausnahmen, für deren Repräsentanten nunmehr zu einer fast unumstößlichen Gewissheit geworden ist: der Funktions- und Bedeutungsverlust  der Gewerkschaften als der 'Dynosaurier' des zu Ende gehenden Industriezeitalters muss sich nunmehr beschleunigt fortsetzen, wenn die als dringend erforderlich angesehene Sicherung unseres Wirtschaftsstandortes noch gelingen soll. Die Medien beschwören den Kampf zwischen "Traditionalisten" und "Reformern", wobei sich unter der Hand der falsche Eindruck einstellt, die Reformer seien, wenn auch vielleicht zähneknirschend, so doch im Prinzip, offen für die restriktive Refrompolitik der rot-grünen Bundesregierung, die im Lichte der öffentlichen Meinung ohne Alternative ist. Ein "neoliberales Einheitsdenken" beherrscht die Szene. Für Stimmen aus der Politik, die in den Gewerkschaften nur noch eine "Plage für unser Land" sehen (F. Merz), mit der aufgeräumt werden muss, scheint der Boden in einer Weise bereitet, die so qualitativ neu ist.[1] Eine durch die politischen Angriffe auf die Gewerkschaften ausgelöste politische Debatte hatte noch kaum begonnen[2], da wurde die Szene auch schon durch die hausgemachte Führungskrise der IG Metall beherrscht. Die Gewerkschaften waren noch ausgeprägter in der Defensive, aber die Frage nach ihrer Zukunftsfähigkeit ist nun in der Bundesrepublik Deutschland ein Thema von öffentlichem Interesse.

 

Will man diesem Thema gerecht werden, dann ist es zum einen unumgänglich  sich in der gegenwärtigen Lage Klarheit über die tiefgreifenden Umbrüche zu verschaffen, denen die alte industrielle Arbeitsgesellschaft ausgesetzt ist, die so, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts  und insbesondere der Blütephase des fordistischen Regulationsregimes[3] kennen unumkehrbar zuende gegangen ist. Dabei geht es allerdings nicht nur um die Zukunft der Arbeit(sgesellschaft), sondern gleichermaßen um die Arbeit der Zukunft (vgl. Martens u.a. 2001 sowie U. Mückenberger in diesem Band). Es geht um die „Metamorphosen“ der Arbeit unter den Vorzeichen ihrer Entgrenzung, der neuen, immer prägender werdenden Formen unselbständiger Selbständigkeit (Peters 2001) oder eines „Arbeitskraftunternehmertums“ (Voß/Pongratz 1998, Kuda/Strauss 2002). Es geht darum, wie die Gewerkschaften einen wirklichen „Epochenbruch“ bewältigen (Wolf 2001, Scholz u.a. 2003). Zum anderen ist man aber auch gut beraten, sich im Blick auf die Frage nach der Reform- und Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften zunächst einmal genauer anzusehen, zu welchen Reformanstrengungen die deutschen Gewerkschaften denn  in den 1990er Jahren fähig gewesen sind. Ich will dies im folgenden mit einem Rückblick auf die Organisationsentwicklungsprozesse dieser Zeit tun. Dabei bleibt die Frage,  ob diese, in der jungen Tradition systemischer Organisationsberatung eingenommene Perspektive auf die Selbstveränderung(sfähigkeit) von Gewerkschaften als Nonprofitorganisationen[4] angesichts der dynamischen, ja dramatischen Veränderungen ihrer Organisationsumwelt, die ich, wie oben angedeutet, als „Epochenbruch“ bezeichnen würde, ausreicht. Das kann man mit Recht diskutieren. Sicher scheint mir allerdings: Die systematische und kritische Beschäftigung mit den gewöhnlich unterbelichteten Selbstverständlichkeiten und Routinen des eigenen Alltagshandelns ist in einer solchen Entwicklungsphase von sehr großer und kaum zu überschätzender Bedeutung.

 

 

2.                Organisationsentwicklungsprozesse   und ihre Anlässe im Blick von Beratern  und wissenschaftlichen Beobachtern        

 

Blickt man vergleichend auf andere Verbände oder auf die politischen Parteien, so muss man sagen, dass sich in den 1990ern bei den Gewerkschaften wirklich viel getan hat:

Nach ersten Anläufen zu Organisationsentwicklungsprozessen schon Ende der 198Oer Jahre, die z.T. wenig erfolgreich – und nach Ansicht mancher Insider eher dilletantisch waren – und nach Abschluss der „heißen Phase“ des Organisationsaufbaus in den neuen Bundesländern (Martens 1995 a u. b) gibt es ab 1992 eine Vielzahl von Gewerkschaftszusammenschlüssen oder auch Übernahmen kleinerer durch größere Gewerkschaften im DGB. Führende Funktionäre, wie Hermann Rappe (1992), haben damals davon gesprochen, dass man dabei auch nur mit Wasser kochen könne. Der Vorschlag aus einigen der kleineren Gewerkschaften, nach österreichischem Modell zu einer Allgemeinen Gewerkschaft zu kommen, blieb ohne Resonanz. Externe Beobachter haben von einer Entwicklung von der „Kooperation über die Fusion zur Konfusion“ gesprochen (Frech 1986). Die Resultate der Gewerkschaftszusammenschlüsse beschäftigen einzelne Mitgliedsgewerkschaften im DGB heute noch sehr intensiv. Aber von vormals sechzehn Mitgliedsgewerkschaften im DGB sind heute nur noch acht verblieben.    

 

Systematische OE-Prozesse setzten dann v.a. seit Mitte der 1990er Jahre ein, häufig nachdem die Organisationszusammenschlüsse erfolgt sind (IG BAU, IG BCE, jetzt auch ver.di), bei der IG Metall unabhängig davon. Wenn man dazu heute als externer wissenschaftlicher Beobachter einen Überblick geben und ein paar begründete Bewertungen vornehmen will, hat man allerdings ein Problem. Nur Ausschnitte dieser Entwicklungen sind wissenschaftlich evaluiert worden. Das hat auch damit zu tun, dass Forschung zu Gewerkschaften in den 1990ern nicht unbedingt Konjunktur gehabt hat. Moderne Managementkonzepte, überhaupt die ‚Manager als Akteure des Wandels‘ stießen bei den Soziologen auf größeres Interesse.[5] Dabei wurden die Umbrüche in der Arbeitswelt mit Worten wie  Wandel oder wachsende Turbulenzen lange Zeit eher verharmlosend beschrieben.  

 

Schon am Beginn der 1990er Jahre sehen sich die Gewerkschaften unter einem massiven Modernisierungsdruck. Sie hinken den fortschreitenden Veränderungen der Beschäftigtenstruktur in Richtung auf Dienstleistungs- und Wissensarbeit hinterher. Sie sind mit dem Aufkommen neuer sozialer Milieus und der Abschwächung traditioneller Bindungen konfrontiert und mit den Entwicklungen, die die Vertreter des Konzepts von der „reflexiven Moderne“ als Individualisierung beschreiben. Zugleich stehen sie zu dieser Zeit vor großen programmatischen Herausforderungen, die nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des vormals real existiert habenden Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt werden. Nach dem kurzfristigen Mitgliederboom infolge der deutschen Vereinigung bahnen sich seit 1992/93 deutliche Mitgliederverluste und erste Finanzkrisen an (hbv).

 

Die These vom „erfolgreichen Scheitern“ der gewerkschaftlichen Organisationsreform ist von den Kollegen v. Alemann und Schmid im Zuge ihrer Analyse des Reformprozesses der ÖTV formuliert worden (v. Alemann/Schmid 1995). Manche wissenschaftliche Beobachter haben sie verallgemeinernd als mehr oder weniger gültig für die Mitgliedsgewerkschaften im DGB insgesamt angesehen. Gemeint ist: Über die Organisationsreform wird intensiv diskutiert aber verändern tut sich nicht viel in dem Verhältnis von Demokratie, Beteiligung und Effizienz. Die Gewerkschaften überleben, weil sie im Ergebnis eines über dreißigjährigen erfolgreichen Institutionalisierungsprozesses politisch abgesichert sind, und ihr permanenter, eigentlich nicht effizienter Reformprozess setzt sich fort. Gewerkschaften als „politisch-moralische Großorganisationen“ existieren so fort – und ein ganz kleines Stückchen bewegen sie sich vielleicht doch.

 

Das war eine eingängige Formel – für die 1990er Jahre. Aber heute merken wir immer deutlicher: Auch erfolgreiche Institutionalisierungsprozesse halten nicht für die Ewigkeit, vielleicht nicht einmal für die nächste Dekade! Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik sind als eigenständiger Akteur im korporatistischen Politikgeflecht der Bundesrepublik plötzlich nicht mehr unangefochten Nicht nur in der FDP auch bei einflussreichen Politikern in der Volkspartei CDU gelten sie als „Plage für unser Land“, sollen sie „entmachtet“ werden.

  

Wenn man heute, am Ende der 1990er Jahre fragt, wie unterschiedliche Akteursgruppen die Gewerkschaften und die gewerkschaftlichen OE-Prozesse  des vorausgegangenen Jahrzehnts beurteilen, kann man unterschiedliche Perspektiven unterscheiden[6]:

(1)    Bei professionellen Organisationsberatern konstatiere ich in aller Regel eine sehr große Ernüchterung. Einige ziehen sich hier aus dem Beratungsgeschäft zurück, andere bleiben in ihrem Markt äußern sich aber zunehmend skeptisch im Hinblick auf den Erfolg ihrer Bemühungen.

(2)    Die „altgedienten“ Funktionäre, die seit spätestens Ende der 1980er an verschiedenen Bemühungen um Organisationsentwicklung beteiligt waren, arbeiten daran weiter, wie an einem Stück Syssiphosarbeit. Es hängt zu viel persönliche Lebensgeschichte und Identität daran um aufzugeben. Nicht wenige können auch auf so etwas wie persönliche Karrierewege und stärkere innergewerkschaftliche  Verankerung verweisen. Aber es ist kein fröhlicher, eher ein sehr skeptisch gewordener Syssiphos, der mir da in Interviews immer wieder begegnet.

(3)    Dann findet man in manchen „Modellprojekten“ und an manchen Stellen der Organisation Repräsentanten einer neuen jungen Generation von GewerkschafterInnen, die durch die Erfahrungen mit „neuer Arbeit“ in der „New Economy“ geprägt sind und mit viel Elan daran gehen, Gewerkschaftsarbeit ‚vor Ort‘ anders und nach ihren Vorstellungen effizient zu gestalten. Man sagt sich dann als langjähriger Beobachter: die werden die Widerständigkeit der tradierten Strukturen noch am eigenen Leib erfahren – und man hofft, dass sie für eine produktive Auseinandersetzung damit mit viel Eigensinn ausgestattet sein mögen.

(4)    Und schließlich gibt es noch diese langjährigen wissenschaftlichen Beobachter wie mich selbst, die z.B. im Hattinger Kreis zusammenkommen und sich immer noch mit den Gewerkschaften als dem „obskuren Objekt ihrer Begierde“ auseinandersetzen. Da geht es auch um die Frage, mit wie viel Eigensinn sie sich an diesem, ihrem Gegenstand festsetzen. Vor allem aber geht es um die Frage, ob und wie sie das von außen immer von neuem produktiv und deshalb für die Praktiker in den Gewerkschaften irritierend, anregend, zum wirklichen Dialog herausfordernd schaffen. Das Hattinger Forum im Herbst 2003 ist dafür mal wieder eine „Nagelprobe“ gewesen.

    

Die aktuellen Einschätzungen zur Lage der Gewerkschaften nach den Bemühungen um Organisationsreformen in den 1990ern sind in bezug auf die folgenden Punkte ziemlich einhellig:

(1)    Als über lange Jahrzehnte erfolgreichen Institutionen lasten auf ihnen alte Traditionen und meist wenig reflektierte Alltagsroutinen schwer. Zugleich immer noch stark ihren Ursprungsmilieus verhaftet ist ihnen der turn around in der Mitgliederentwicklung noch nicht geglückt.

(2)    Mit den Herausforderungen zu einer systematischen Organisationsentwicklung gehen die Organisationsspitzen immer noch eher zögerlich um.

(3)    Auf der mittleren organisationsebene der hauptamtlichen Organisation sehen viele externe Beobachter neben jenen, die Veränderung betreiben, nach wie vor auch die stärksten Widerstände gegen tiefgreifende Veränderungen. Analog zu Einschätzungen in bezug auf OE-Prozesse in Unternehmen ist hier bisweilen auch von der „Lähmschicht“ die Rede.

(4)    Zugleich nimmt von außen der Veränderungsdruck auf die Organisation deutlich spürbar zu. Und aktuell geraten die Gewerkschaften auch arbeitspolitisch immer mehr in die Defensive.

(5)    Frei nach einem Wort von Johann Tiekart, früherer Manager des Vorzeigeunternehmens Mettler-Toledo, könnte man sagen, die Entwicklung müsste inzwischen ernst genug sein, um nunmehr die Risiken eines „weiter so“ in so finsteren Farben ausmalen zu können, dass dann in der Tat nachhaltige Schritte in Richtung auf eine tiefgreifende Organisationsentwicklung möglich werden (Tiekart 1994).

    

Ich möchte diesen „Ernst der Lage“, wie er sich heute nach dem Ende der Dekade und jenseits der aktuellen Debatten, die Friedrich Merz und co. sowie die „FDPisierten Medien“ den Gewerkschaften aufzwingt noch einmal anhand ausgewählter veränderter Rahmenbedingungen verdeutlichen:

 

(1)    Die „Metamorphosen der Arbeit“ (Entgrenzung, Subjektivierung, Arbeitskraftunternehmertum etc.) im Zeichen von Informationalisierung und globalisierter Ökonomie sind inzwischen schon ziemlich weit vorangeschritten und durchaus nicht auf die sogenannte New Economy oder auf Angestelltentätigkeiten begrenzt.[7] Und zugleich verändern sich auch die Menschen. Es geht nicht nur einfach um „die Angestelltenfrage“, es geht um Veränderte induviduelle Subjekte, die mit den alten bürokratischen Großorganisationen wenig anfangen können, die aber auch mit den Zumutungen einer fast schon „totalisierten“ Arbeitswelt zurecht kommen müssen und dabei Unterstützung brauchen könnten. 

 

(2)    Die Krise der Institutionen der Arbeit reicht inzwischen von den Sozialversicherungssystemen über die Tarifautonomie und die Mitbestimmung bis zu den Gewerkschaften. Selbst der alte nationalstaatliche Rahmen ist nicht mehr alleinige Bezugsgröße gewerkschaftlichen Handelns. Europa, die EU, ist die Herausforderung zur Entfaltung eines transnationalen gewerkschaftlichen Handlungsraums.

 

(3)    Der sich aufdrängende Referenzzeitraum ist am ehesten der der "zweiten industriellen Revolution" im Ausgang des 19. Jahrhunderts, also zu der Zeit, als Industriegewerkschaftliche Strukturen, gestützt vor allem auf neue Facharbeitergruppen, im nationalstaatlichen Handlungsrahmen zu mächtigen Organisationen heranwuchsen.  

 

(4)    Diesen alten "Facharbeitergewerkschaften" gehört aber nicht die Zukunft in der modernen "Wissensgesellschaft". Ich benutzte den Begriff mit Vorbehalt, denn auch die „Wissensgesellschaft“ wird eine Arbeitsgesellschaft bleiben und mit dem  Wissen ist das auch so eine Sache.[8] Aber es geht mir hier um die neuen Gruppen hochqualifizierter Beschäftigter. Der Facharbeiterkern (der in Deutschland nach 1890 die Gewerkschaften eroberte – im alten Metallarbeiterverband waren es damals die Schlosser und Dreher, die die Schmiede verdrängten[9]) und die Informations- und Wissensarbeiter (die heute leider nicht in die Gewerkschaften drängen) müssen beide Platz finden können in einer "nachhaltig vernetzten Gewerkschaft der Zukunft".

 

(5)    Die politischen Parteien bemühen sich derweil, dem wachsenden Parteienverdruss der Menschen durch hektische Geschäftigkeit in alten Mustern des Lagerdenkens entgegenzuwirken. Und die Financal Times kommentiert Tony Blairs Bemühungen, die „neue Mitte“ mit einem „Gipfel der Progressiven“ (Regierungen) weiterhin zu fesseln, mit dem Satz: „Der Siegeszug der liberalen Marktwirtschaft – wohlgemerkt der liberalen, nicht einer noch irgendwie sozialen! -  kann letztlich nicht kaschiert werden von putziger Rhetorik über einen dritten Weg.“ 

 

 

Metamorphosen der Arbeit – Zerfall der alten Tradition und neue Subjektivität

  • Metamorphosen der Arbeit (Entgrenzung, Subjektivierung)
  • Informationalisierung und globalisierte Ökonomie
  • Krise der Institutionen der Arbeit
  • Wachsende Orientierungsbedarfe
  • Referenzzeitraum die "zweiten industriellen Revolution"
  • Der alten "Facharbeitergewerkschaft" gehört nicht die Zukunft
  • Alter Facharbeiterkern und neue Informations- und Wissensarbeiter
  • In der "nachhaltig vernetzten Gewerkschaft der Zukunft".

Die Herausforderungen nach dem Ende des Fordismus sind enorm

 

 

 

3.                Gewerkschaftliche Organisationsentwicklungsprozesse in den 1990er Jahren

 

Ich habe nun bis hier her den Rahmen skizziert , in dem man die OE-Prozesse der 1990er Jahre und die aktuellen Herausforderungen betrachten muss, jedenfalls so wie er sich mir darstellt. Ich möchte nun etwas stärker im Detail auf diese gewerkschaftlichen Organisationsentwicklungsprozesse eingehen. Ich  erinnere noch einmal an meinen Hinweis, dass nur Ausschnitte dieser Entwicklungen wissenschaftlich evaluiert wurden, und beginne mit einigen Vorläuferorganisationen von ver.di.

 

Der Strategieprozess der HBV (vgl. auch Beerkessel 1992, Martens 1993) erfolgte im Zeitraum von 1989 bis 1993 vor dem Hintergrund des einleitend skizzierten Modernisierungsdrucks, so wie er sich damals den Gewerkschaften darstellte. Er wurde, wohl auch seitens der externen Berater wenig professionell angegangen. In bester Absicht sollte wirklich alles auf den Tisch und wirklich alle aktiven haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre sollten gleichberechtigt beteiligt sein– letztere zu Beginn allerdings nicht ganz ihrem Gewicht entsprechend. Diese Vorstellung von Organisationsentwicklung als systemischem Prozess - in dem zunächst die 49 Punkte in einem offenen Verfahren identifiziert wurden, um die es gehen sollte – hatte nicht gerade mit Konzepten systemischer Beratung zu tun. Klare Ziele und Prioritäten wurden gemeinsam von Organisationsspitze und  externen Beratern gerade nicht festgelegt. Das war gut gemeint, aber weil Führung so nicht sichtbar war, verdeckt aber von fast allen Beteiligten vermutet wurde, entstand zunehmendes Misstrauen in einer Gewerkschaft, die damals besonders deutlich im hauptamtlichen Funktionärskörper durch unterschiedliche politische Strömungen geprägt war. Der Prozess geriet rasch ins stocken und wurde unter dem Eindruck der Probleme des Organisationsaufbaus und plötzlich galoppierenden Mitgliederschwundes Ost mit einer Finanzkrise in der Folge 1993 abgebrochen. Der damalige 1. Vorsitzende von hbv, Lorenz Schwegler trat zurück. Man wird wohl sagen können, dass dieser Strategieprozess gescheitert ist. Es könnte aber sein, dass man bei näherem Hinsehen doch findet, dass die eine oder andere bedeutsame Veränderung, z.B. der heutige Innovationsfonds bei ver.di, hier eine ihrer Wurzeln hat.

    

Der Reformprozess der ÖTV gehört zu den wenigen Anstrengungen um Organisationsentwicklung, die systematisch wissenschaftlich begleitet worden sind. Die Evaluateure haben dazu u.a.- das Spannungsverhältnis von Partizipation, Offenheit und Effizienz aufgespannt (Alemann/Schmid 1993). Ihre Analysen belegen, dass unter gegebenen Sparzwängen immerhin bestimmte Strukturbereinigungen bei den Stabsfunktionen auf Ebene der Vorstandsverwaltungen gelungen sind. Die bei der ÖTV im zwischengewerkschaftlichen Vergleich seinerzeit sehr starke mittlere Organisationsebene blieb hingegen weitestgehend unangetastet – in den Anträgen zum Gewerkschaftstag wurde aufgelistet, was man dort bis dahin nicht getan habe und auch zukünftig nicht tun wolle, berichtete einer der Evaluateure einmal auf einer Tagung in Brüssel. Eine deutliche Stärkung der operativen Ebene vor Ort gelang folgerichtig nicht. Was blieb, war so das Fazit vom „erfolgreichen Scheitern“ oder aber der Stoßseufzer, dass die Reform als beständiger Prozess weitergehe und die ÖTV sich dabei doch bewege (v. Alemann/Schmid 1998). Über die Wirkungen der späteren Leitbilddiskussion kann ich keine gesicherten Aussagen machen. Die verstreuten Hinweise, die ich habe, begründen allerdings Skepsis.

 

Über connexx.av von ver.di wie auch über das Siemensprojekt der IG Metall wird an anderer Stelle in diesem Band ausführlicher Berichtet[10]. Insofern die Anfänge weit in die 1990er Jahre zurückreichen, will ich einige Bemerkungen dazu machen. Die ersten Anfänge zu diesem Projekt erfolgten im Organisationsbereich der IG Medien, die im Bereich der Audiovisuellen Medien (AV-Medien) ‚kein Bein an die Erde‘ bekam. Dabei gehen wichtige Impulse auf externe Organisationsberater zurück. Sie wurden intern aufgegriffen. Bis zu dem ersten gemeinsamen Lernprojekt von IG Medien und DAG und dann schließlich dem ver.di-Projekt connexx.av war das kein ganz gradliniger Prozess. Eher schon handelte es sich um eine Abfolge von Lernprojekten, zwischen denen es auch Unterbrechungen gab. Aber es waren Projekte mit Zielvereinbarungen, definierten Ressourcen, für die Projektarbeit freigestellten, ja aus der Branche gezielt eingeworbenen Projektmanagern, mit Berichtspflichten und mit externer Supervision. Hier waren Lernprozesse möglich: Einerseits nach außen, in Bezug auf die neue Klientel, der man sich als Dienstleister näherte und die man als Kundschaft begriff (vgl. Gesterkamp 2002), andererseits nach innen, weil man mit anderen, neuen Arbeitsformen experimentierte, die vielleicht auch in anderen Handlungsfeldern nützlich sein könnten. Was in beiden Richtungen für die Zukunft gelernt werden wird, ist heute noch offen. Connexx.av läuft noch bis Ende 2004, und ver.di ist zugleich noch sehr stark von ihrem Fusionsprozess in Anspruch genommen.

 

Derzeit bindet die Bewältigung des ver.di-Prozesses noch viele Energien. Der Beitrag von Frank Bsierske in diesem Band vermittelt davon ja einen lebendigen Eindruck. Gleichzeitig laufen die verschiedensten Projekte, die aus dem Innovationsfonds von ver.di finanziert werden - von der Qualitätsentwicklung im hauptamtlichen Apparat bis zu den Modellprojekten wie connexx.av  TIM, das inzwischen ausgelaufen ist, OnForTe[11] oder auch das Call-Center-Projekt im Bezirk Bremen.[12] Es gibt hier also keineswegs nur Projekte, die auf die dann zumeist männlichen, hochqualifizierten Beschäftigten in der IT-Branche zielen. Im Übrigen ist die Beschäftigtenstruktur im Bereich der audio-visuellen Medien, auf die connexx.av zielt, auch nicht so eindeutig männlich strukturiert. Andererseits wird die Genderfrage, so wichtig diese Frage im Zusammenhang der work-life-balance auch ist, nach Einschätzung mancher Experten derzeit in den Gewerkschaften eher als ein „Luxusthema“ angesehen – trotz der ersten Männerkonferenz bei ver.di. Hier werden Modernisierungsblockaden der Gewerkschaften als Männerorganisationen durchaus sichtbar.

 

Noch ein, zwei Sätze zu TIM. TIM stand früher für „Telekommunikation, Informationstechnologien und Medien“, später stand  für das dritte Wort Medien das Wort Mobiltelefon: denn TIM war dem gleichlautenden Fachbereich 9 von ver.di zugeordnet, connexx.av dem Fachbereich 8, Medien. Auch TIM zielte wie connexx.AV darauf ab organisationspolitisch „weiße Flecken“ gewerkschaftlich zu erschließen. Wie die Nachhaltigkeit der verschiedenen innovativen Projekte gesichert werden kann, wie man sie in veränderte Organisationsroutinen überführt ist offen. Dass bei ver.di auch personalpolitisch Sparen angesagt ist, macht die Sache nicht leichter.

 

Auch am Ausgangspunkt des Verbundprojekts Angestellte der IG Metall, das 1989 begann, standen Analysen zu den Stichpunkten die ich Eingangs  skizziert habe. Sie wurden seinerzeit mit einigem Aufwand betrieben und auf wissenschaftlich hochkarätig besetzten Konferenzen auch nach innen vermittelt. Danach war schon damals klar, dass die IG Metall nicht „Facharbeitergewerkschaft“ würde bleiben können.

 

Ebenso war klar, dass es im Kern um zwei Zieldimensionen ging: Zum einen galt es in den wachsenden Angestelltenbereichen neue Mitgliederpotentiale zu erschließen Dazu wurden zunächst 18 Verwaltungsstellen mit wichtigen, großen Betrieben mit hohen Angestelltenanteilen ausgewählt. Zum anderen waren die Vorstellungen, dort neue Arbeitsformen zu erproben und entwickeln (Projektarbeit, neue Instrumente, Professionalisierung der Arbeit) durchaus derart, dass dieses Unterfangen als Schritt zu einer Organisationsentwicklung der IG Metall insgesamt angesehen wurde.

 

Eine externe Evaluation, die es auch zu diesem Projekt gegeben hat, spricht von einer schwierigen Gratwanderung zwischen Mitgliederkampage und Organisationsentwicklung und sieht v.a. in bezug auf dieses zweite Ziel wenig Erfolge (Fröhlich u.a. 1996). Spricht man heute mit damaligen Akteuren oder betrachtet man die aktuellen Projekte und Entwicklungen bei der IG Metall in Bezug auf die  IT-Branche, kommt man zu einer etwas anderen Einschätzung. Es gibt bemerkenswerte lange Wirkungsketten.

 

Das OE-Projekt der IG Metall„Mit Kopf und Herz die Organisation entwickeln“  (1993 bis 1998, vgl. IG Metall 1995) war vielleicht der ambitionierteste Ansatz, der bis dahin bei den Gewerkschaften verfolgt worden ist. Untergliedert in 9 Teilprojekte zielte das OE- Projekt auf alle Organisationsebenen

  • Es ging um zukünftige Handlungsfelder und die Reorganisation von Vorstandsabteilungen oder die Kommunikationsflüsse zwischen den Ebenen (bei der Konzernbetreuung z.B.).
  • Es ging um regionale Teilprojekte (bei der Kooperation zwischen Verwaltungsstellen, der Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Bezirksleitung, bei der Entwicklung eines Tarifvertragsentwurfs in einem beteiligungsorientierten Prozess, bei der Bildungsarbeit in der Strukturpolitik, beim Erschließen „weißer Flächen“ ).
  • Es ging um örtliche Teilprojekte an der Schnittstelle zischen haupt- und ehrenamtlicher Arbeit.
  • Und es ging um die Modellprojekte „Beteiligungsorientierte gewerkschaftliche Betriebspolitik“

Letzteres Projekt, meines Wissens als einziges extern mit öffentlich vorgelegten Ergebnissen evaluiert (Frerichs/Martens 1999)[13], kam interessanter Weise erst durch Impulse aus dem „Verbundprojekt Angestellte“ zustande, war also zunächst nicht vorgesehen gewesen. Das OE-Projekt wurde durch externe Beratung unterstützt und in seinem Verlauf wurden viele hauptamtliche Funktionäre als Prozessmanager ausgebildet. Aber auch bei diesem Projekt muss man am Ende wohl sagen:

  • Vieles blieb stecken. Wirklich erfolgreiche Modellprojekte (wie „Beteiligungsorientierte  gewerkschaftliche Betriebspolitik“) strahlten kaum aus und hatten keine Schneeballeffekte.
  • Das aufgebaute Potential der Prozessmanagementausbildung bleibt seither vielfach ungenutzt.
  • Der OE-Prozess wurde top down nicht wirklich konsequent forciert.
  • Der außerordentliche Gewerkschaftstag Ende 1998, der eine Zwischenbilanzierung des OE-Prozesses erbringen sollte, stand v.a. unter dem Vorzeichen der Nachwahl eines neuen stellvertretenden Vorsitzenden für Walter Riester.

 

Ähnlich wie bei ver.di in bezug auf die AV Medien (connexx.av) oder den Telekommunikationsbereich (TIM) gibt es schließlich auch bei der IG Metall erneut beachtliche und beachtlich erfolgreiche Anstrengungen, im Bereich der IT-Branche besser Fuß zu fassen.

  • Modellprojekte wie das Siemensprojekt oder das IT-Netzwerk Rhein-Main  können auf einige Positionsgewinne verweisen.
  • Es gibt insgesamt (ähnlich wie bei den AV-Medien – connexx.av) leichte Mitgliederzuwächse, gegen den allgemeinen Trend.
  • Im Siemenskonzern haben die Betriebsräte aus den Zeiten des Verbundprojekts inzwischen vielfach Mehrheiten erobert und die „Arbeitsgemeinschaft nabhängigenr Betriebsräte“ (AUB) zurückgedrängt.
  • Die über das Verbundprojekt angestoßene Professionalisierung der Betriebsratsarbeit hat sich verstetigt. Neue Instrumente (Betriebszeitungen, Intranet, Vernetzungen von Beschäftigten etc.) wurden weiterentwickelt und werden genutzt.
  • Personelle und konzeptionelle Kontinuitäten zum Verbundprojekt sind unübersehbar, aber auch organisatorische Weiterentwicklungen sind zu vermerken: Örtliche und regionale Betriebsrätenetzwerke sind entstanden, Die Konzernbetreuung (für Siemens in der Vorstandsverwaltung der IG Metall)  ist jetzt eng mit der Konzernbetriebsratsspitze, dem IT- Team der IGM, den im Blick auf den Konzern wichtigsten Verwaltungsstellen und dem Projektteam des Siemensprojekts verknüpft.
  • Gleichzeitig versucht die IG Metall die Erfahrungen aus den Modellprojekten in die Fläche zu übertragen. Projektförmige Arbeit und das Festlegen von Zielen sind zwar immer noch schwierig und umstritten, aber nicht mehr einfach etwas gänzlich Fremdes.
  • Auch aus der laufenden Arbeit heraus haben sich aus manchen örtlichen oder bezirklichen Arbeitskreisen mit Beschäftigten und Betriebsräten der IT-Branche neue netzwerkförmige Arbeitszusammenhänge entwickelt
  • Zu vermerken ist schließlich, dass sich neben diesen Vernetzungen in der IT-Branche eine zweite „Netzwerkszene“ von Betriebsräte- und Beraternetzwerken in eher traditionellen Organisationsbereichen entwickelt und stabilisiert hat (Kaßebaum 1999, TBS 2003). Sie strahlt zwar noch nicht sehr erkennbar aus und sie ist in der Zukunftsdebatte der IG Metall eher nur am Rande vorgekommen, aber sie ist ein wichtiger Modernisierungsimpuls für die IG Metall.

 

Zu  Reformanstrengungen bei IG BAU und IG BCE kann ich nur wenig sagen. Ich bin nicht fundiert genug informiert und will mich aus zeitlichen Gründen auch beschränken. Auffällig ist nach meinen Informationen die Konzentration von OE-Prozessen auf den hauptamtlichen Bereich.[14] Zurückblickend auf das was ich bislang gesagt habe – vom Strategieprozess bei hbv: alles sollte auf den Tisch, und das Prinzip war „structure follows strategy“ bis zum OE-Prozess der IG Metall: OE auf Basis systemischer Beratung im Blick auf hauptamtlichen ‚Apparat‘ und ehrenamtliche Strukturen – könnte man auch sagen: noch deutlicher als dort ist OE hier ein bewusst eingegrenzter Teil von Modernisierung, stark fokussiert auf den hauptamtlichen Funktionärskörper. Und unabhängig davon, welche Modernisierungsanstrengungen die jeweiligen Gewerkschaften sonst im Blick auf die Weiterentwicklung von Interessenvertretungsarbeit und Arbeitspolitik unternehmen, macht dies noch einmal deutlich, dass Organisationsentwicklung nur ein, wenn auch höchst bedeutsamer, so doch gleichsam immer „mitlaufender“, Teil übergreifender Reformanstrengungen angesichts der Herausforderungen des Epochenbruchs ist.

 

Bei der IG BCE geht es um Personalentwicklung und Kostenminimierung (PEK), aber wie bei ver.di auch um Qualitätsmanagement, um Mitgliederkampagnen v.a. im Bereich höher qualifizierter Beschäftigter und dabei immer um die Entwicklung geeigneter Instrumente/Tools im Rahmen von Modellprojekten(GEO und START). Bei der IG BAU ist der OE-Prozess mit der Einsparung der Mittleren Organisationsebene und der drastischen Reduzierung der Zahl der Verwaltungsstellen (von ca. 150 auf 60) verbunden. Im Hintergrund steht ein Mitgliederrückgang von ca. 800 000 auf unter 500 000. Damit, dass die Geschäftsführer nicht mehr gewählt werden, ergeben sich Chancen für eine Stärkung der strategischen Führung (bei der IG BAU z.B. durch regelmäßige, gelegentlich extern moderierte,  Klausuren von Vorstand und Geschäftsführern, Führung durch Zielvereinbarungen, Professionalisierung der Personalentwicklung, Einrichtung von Assessmentcentern für die Qualifizierung zum Geschäftsführer). Die von mir in Bezug auf die verschiedenen OE-Prozesse in den Gewerkschaften wiederholt kritisch angesprochenen Top Down Prozesse sind hier leichter möglich. Die Offenen Fragen, die sich bei so wie in den beiden skizzierten Fällen angelegten Veränderungen der hauptamtlichen Organisation immer stellen, lauten u.a.:

  • Entspricht dieser Straffung des „Apparats“ eine Stärkung der ehrenamtlichen Ebene?
  • Wie bleiben die Gewerkschaften auf der örtlich/regionalen Ebene präsent?
  • Wie werden sie dort besser handlungsfähig?
  • Können die betrieblichen Beteiligungslücken, über die im Übrigen alle Gewerkschaften Mitte der 1990er Jahre geklagt haben (vgl. Martens 1997, 37-39) , geschlossen werden?
  • Wie verhält es sich hier z.B. mit den „Experten in eigener Sache“ bei der IGBCE im vergleich zur „Beteiligungsorientierten gewerkschaftlichen Betriebspolitik“ der IG Metall?   

 

 

4.                Schlussbemerkungen

 

Ich muss diese Fragen an dieser Stelle als offene Fragen stehen lassen. Es gibt hier für externe Beobachter keine gesicherten Erkenntnisse. Aber ich will doch noch einige generellere Schlussbemerkungen machen.

 

Es hat sich viel getan bei den Gewerkschaften in den 1990er Jahren, habe ich zu Beginn dieses Beitrags ausgeführt; und: wohl  nirgends hat sich so viel getan wie in den Gewerkschaften - nicht in den Parteien, nicht in anderen Verbänden -  könnte man pointiert noch hinzufügen. All das war aber – zumal im Blick auf die großen Herausforderungen, denen die Gewerkschaften gegenüberstehen – dennoch nicht ausreichend, so  könnte man jetzt als Zwischenfazit hinzufügen.  Es werden bei den Gewerkschaften zwar keine Potemkinsche Dörfer (mehr) aufgebaut (wie P. Glotz 1998 in einem Spiegelessay über Krise und Verfall der Institutionen noch meinte). Es gibt vielmehr viele Projekte, von denen einige gescheitert und viele in mancher Hinsicht erfolgreich gewesen sind, aber es bleibt eine offene Frage: Wir können darüber die Gewerkschaften ihre Organisationsreform insgesamt zu einem erfolgreichen Projekt machen?

 

Vieles erweist sich als viel mühsamer als gedacht:

·         die Gewerkschaften sind immer noch "Kinder des Fordismus" (vgl. Frerichs 2001) . Sie sind geprägt durch ein Denken in Hierarchien und einer überholten Arbeitsteilung sowie in großen Strukturen. Sie haben eine Vorliebe für standardisierte und damit auch immer selektive Lösungen. Sie sprechen eine Sprache, die durch eine Semantik der Vereinfachung gekennzeichnet ist und orientieren sich immer noch an der alten ‚Arbeitersolidarität‘. Geschlossenheit und Verbandsdisziplin gelten noch immer als der Schlüssel zum Erfolg. Subjektivität und Individualisierung werden eher als Bedrohung wahrgenommen. Mit Differenz und Vielfalt tun sie sich schwer.

·         Aufgrund dieser Merkmale und weil sie politische Organisationen sind, in denen hauptamtliche Funktionäre sich zumeist in Wahlfunktionen behaupten müssen, gibt es in ihnen erhebliche Widerstände gegen Veränderungsimpulse, die man unter dem Stichwort der ‚lernenden Organisation‘ beschreiben könnte.

 aber ihre industriegesellschaftlichen Grundlagen, aus denen heraus sie einmal ihre Stärke entwickelt haben, verändern sich tiefgreifend und verschwinden immer mehr,

 

Nun kann ‚keiner aus seiner Biographie herausspringen‘. So hat das mir gegenüber unlängst eine Organisationsberaterin formuliert. Das gelte für Idividuen wie für Organisationen. Die Entwicklung einer ‚neuen Identität‘ (Zoll 2003) ist deshalb ein sehr schwieriger Prozess.

 

In den Fünf Jahren, die wir im Hattinger Kreis auf das Thema dieses Forums hingearbeitet, uns der OE-Prozesse in Expertenanhörungen vergewissert haben, hat manchmal die Skepsis überwogen, ob Gewerkschaften zu lernenden Organisationen werden könnten. Ein englischer Kollege hat mir aus Anlass eines unserer sfs-Foren zum Thema „Neue Arbeit – neue Gesellschaft. Nach dem Umbruch“ im Blick auf die Gewerkschaften einen Satz aus Hermann Hesses Glasperlenspiel zugemailt: "Hoffnung und Verzweiflung gehören zusammen. Sie regieren einander wechselseitig, wie das Einatmen und das Ausatmen"

 

Aber ich will nicht bei einem abwägenden ‚sowohl als auch‘ stehen bleiben. Ich denke es gibt  - trotz des jüngsten fatalen Debakels der IG Metall -  bei näherer Betrachtung durchaus Gründe, diejenigen Ansätze und Entwicklungen, die zuversichtlicher stimmen können, stärker zu gewichten. Dafür sprechen vor allem die "langen Wirkungsketten", die es eben doch gibt. Aber es besteht auch Bedarf an kritischer Bestandsaufnahme seitens der Gewerkschaften (und zu der sich die Sozialwissenschaften bislang weitgehend auch nicht bequemt haben). Dieser Bedarf besteht nicht nur unverändert, er besteht heute in ganz besonderer Weise.

  • Das "neoliberale Einheitsdenken" ist in den Köpfen
  • Die Veränderungen/Metamorphosen der Arbeit sind so tiefgreifend wie seit über 100 Jahren nicht
  • Das alte Gefüge unserer "institutionell verfassten Arbeitsgesellschaft" ächzt unter dem Veränderungsdruck und droht immer mehr tiefe Risse zu bekommen.
  • Die 'alte', fordistisch geprägte Organisation wird angesichts der Herausforderungen der Zukunft als eine Struktur, die arbeitspolitische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit sichern und neu entwickeln kann, nicht Bestand haben können.
  • Die Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, Handlungsfähigkeit im Zentrum der immer dynamischeren gesellschaftlichen Umbrüche zurückzugewinnen und den Spagat zu schaffen zwischen den Leistungsträger im Zentrum der ablaufenden Modernisierungsprozesse und den Angehörigen derjenigen Arbeitnehmergruppen, die an den prekären Rand des Erwerbssystems gedrängt werden.[15]
  • Das erfordert Öffnung, Anpassung (nicht zu verwechseln mit Prinzipienlosigkeit), Aufbau von Dialog- und Erfahrungsräumen usw.

 

J. Kocka hat auf dem Symposium "Gewerkschaften in der Zivilgesellschaft" (Berlin, Juni 2003) gesagt, um in der Zivilgesellschaft anzukommen, müssten die Gewerkschaften sich stärker auf ihre sozialen Bewegungstraditionen besinnen. Es gehe heute um Vielfalt in öffentlichen Räumen, um selbstorganisiertes Handeln usw. Dabei mag mancher an Attac und an die Ökologiebewegung denken. Das ist richtig, und größere Offenheit und Nähe ihnen gegenüber wäre begrüßenswert. Dabei ist aber vor allem an die hochqualifizierten Beschäftigten zu denken, an die Leistungsträger für die Gesellschaft von Morgen, an die Wissensarbeiter, die  ein differenziertes, oft kompetentes Bild unserer Gesellschaft haben und den Parteien und Großorganisationen der alten institutionell verfassten Arbeitsgesellschaft kritisch distanziert gegenüberstehen - mit manchen guten Gründen. Wer wenn nicht die Gewerkschaften könnte ihnen Angebote für neue öffentliche Diskurse machen. Zu Diskursen, die aus den politischen Schaukämpfen mit Sachverständigenausschüssen,  Expertisen und Gegenexpertisen über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme heraus führen, oder die gegen ein neues Konzept von Corporate Governance, das die alte Mitbestimmung aushebeln und die strategischen Entscheidungen der Wirtschaft, die uns alle angehen, abgehobenen Eliten überantworten soll, das Bedürfnis nach Transparenz und wirklicher Leistungsgerechtigkeit angemessen artikulieren, das die neuen Arbeitskraftunternehmer überall dort haben erkennen lassen, wo Betriebsräte in der New Economy entstanden sind. 

 

Ich will mit einem kleinen ermutigenden Beispiel enden, das mir in diesem Frühjahr im Zusammenhang mit Erhebungen zu den gewerkschaftlichen Modellprojekten zur New Economy geschildert wurde. Da haben eine Projektmanagerin und ein Betriebsratsmitglied während des Irak-Krieges ein Flugblatt von ver.di am schwarzen Brett aufgehängt. Nach einer Stunde hatten die Beschäftigten es wieder abgenommen. Es gab Diskussionen. Dabei wurde folgende bemerkenswerte Begründung der Beschäftigten sichtbar: natürlich seien sie auch gegen diesen Krieg. Aber etwas komplizierter als in diesen gewerkschaftlichen Parolen dargestellt sei die Welt eben doch.  Und dass ver.di nun den Irakkrieg benutze, um an dieser Stelle den Schulterschluss mit der SPD zu demonstrieren, während man sich in Fragen der Agenda 2010 wie die Kesselflicker streite, das wollten sie nicht am schwarzen Brett vorgeführt bekommen.

 

Wie gesagt, ich finde dieses Beispiel ermutigend. Hier geht es um die Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Die können arbeits- und gesellschaftspolitische Interessen durchaus kompetent artikulieren. Sie wissen zumeist, dass sie dafür Betriebsräte brauchen und sie sind für Gewerkschaften ansprechbar – trotz der problematischen Seiten von deren überkommenem Organisationsverständnis und Erscheinungsbild. Worauf es ankäme wäre, mehr Offenheit, der weitere Auf- und Ausbau von wirklichen Dialogräumen, die Entwicklung gemeinsamer Lernprozesse. Wenn dazu weitere Schritte gelingen, kann aus den Visionen von einer Gewerkschaft mit einer neuen Identität (R. Zoll 2003), einer „Empowermentagentur“ an Stelle des alten Arbeitervereins (U. Klotz 200 und 2003) oder der „nachhaltig vernetzten Gewerkschaft“  (H.-J. Arlt 2003) durchaus noch eine Wirklichkeit werden. 

 

     

Literatur:

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[1] P. Kern (2003) hat diese neue Qualität einer politischen Kampagne, in der das alte Konsensmodell, das viele Jahrzehnte der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland sehr zu deren Vorteil prägte, nun wirklich aufgekündigt wird, sehr prägnant herausgearbeitet. Sie erinnert einen, bei allen Vorbehalten gegenüber falschen Analogieschlüssen, inzwischen geradezu an die 1920er Jahre.

[2] Sie auszulösen intendierte das Symposium "Gewerkschaften in der Zivilgesellschaf", das die OBS im Juni 2003 veranstaltete. Vgl. in diesem Zusammenhang Forum Zukunft 2003 sowie Kocka 2003a und b).

[3] Zur französischen ecole de la Régulacion vgl. Hübner/Mahnkopf 1988 und Lipietz 1993, zur aktuellen Debatte u.a. Aglietta 2000, Dörre 2001 und 2003, 

[4] Vgl. zur Diskussion über Organisationsentwicklung und Gewerkschaften neben dem Beitrag von H. Epskamp in diesem Band insbesondere B. Dilcher (1993), H. Epskamp (1994) sowie R. Zech (1998), allgemeiner aber mit Bezug auf Gewerkschaften zur systemischen Organisationsberatung den Litaraturüberblick bei Martens 2003, 76ff.   

[5] So gab es in dem seit 1995 über 6 Jahre laufenden DFG-Förderschwerpunkt zum Wandel der industriellen Beziehungen zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung im Zeichen einer globalisierten Ökonomie ein einziges kleineres Forschungsprojekt, das sich den Gewerkschaften zuwandte – und zwar im Blick auf die verschiedenen Gewerkschaftszusammenschlüsse, nicht aber auf die viel tiefer gehenden und im Blick auf eine mögliche Anpassung an die massiven Veränderungen ihrer Organisationsumwelt sehr viel bedeutsameren Organsationsentwicklungsprozesse. 

[6] Die nachfolgenden Aussagen stützen sich insbesondere auf Interviews im Zuge (1) der Evaluation des Teilprojekts 2.1. „Beteiligungsorientierte gewerkschaftliche Betriebspolitik“ des OE-Projekts der IG Metall (Ferichs/Martens 1999) sowie (2) der Evaluation gewerkschaftlicher  Modellprojekte im bereich der sog. New Economy (Martens 2003), Ferner auf eine Reihe von Gesprächen im Zuge eigener Beratungsaktivitäten für den DGB in den Jahren 1999 bis 2001 .

[7] Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die Ergebnisse der repräsentativen Erhebungen und Befragungen, die die IG Metall im Rahmen ihrer Zukunftsdiskussion unter den Beschäftigten ihres Organisationsbereichs durchgeführt hat (IG Metall 2001).

[8] [8] Der Begriff der „Wissensgesellschaft“ ist z.B. deshalb in Anführungszeichen zu setzen, weil er, indem er Wissensbasierung als das Besondere und Neue akzentuiert, der problematischen Vorstellung Vorschub leistet, es hätte frühere Gesellschaften gegeben, die nicht auf Wissen beruht hätten, bzw. den Begriff des Wissens unter der Hand für das abstrakt-theoretische Wissen der modernen Wissenschaften reserviert. Im übrigen wird mit der „ Wissensgesellschaft“ ebenso wie mit anderen gegenwärtig im Umlauf befindlichen Ettiketten, von der Informations- über die Risiko-, die Tätigkeits- oder die Bürgergesellschaft usw. immer nur eine bestimmte Aspektwahl getroffen – und damit von anderen Aspekten abgesehen, z.B. dem nach wie vor herrschaftsgeprägten Charakter moderner Gesellschaften oder dem Umstand, dass sie auch noch nach den Technologieschüben, die die Redeweise von der neuen Wissensbasierung erst ermöglicht haben, immer noch eine Arbeitsgesellschaft ist und absehbar auch noch bleiben wird. A. Pongs Frage „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ (Pongs 1999 und 2000) macht insofern deutlich, dass hier unentschiedene Fragen in Bezug auf die Relevanz konkurrierender Deutungsangebote angesichts einer zwar pfadabhängigen aber doch offenen und auch vor großen Sprüngen nicht gefeiten Entwicklung vorliegen.

 

[9] Vgl. dazu die Analyse von R. Martens 1988.

[10] Ein erster Zwischenbericht zu einer gründlichen Evaluation von connexx.av, wie auch zum Siemensprojekt und dem IT-Netzwerk Rhein-Main der IG Metall findet sich bei Martens 2003.

[11] OnForTe beschäftigt sich seit 1997 mit der durch die informationalisierte Ökonomie veränderten Arbeitswelt. Ein Expertenteam berät und informiert zu Themen, die durch das Arbeiten in Netzen oder virtuellen Strukturen berührt werden (www.onforte.de).

[12] Nach Interviewaussagen sind es ca. 50 Projekte, die derzeit aus dem Innovationsfond von ver.di finanziert werden, für den zwei Prozent des Beitragsaufkommens zur Verfügung stehen. Connexx.av ist unter diesen Projekten das deutlich größte Einzelprojekt.

[13] Nach Interviewauskünften gab es auch eine Evaluation der Prozessmanagerausbildung, über deren Ergebnisse meines Wissens aber keine veröffentlichten Ergebnisse vorliegen.

[14] Die nach Interviewaussagen bei der IGBCE nicht immer intendiert war - „Experten in eigener Sache sollte z.B. im Rahmen von GEO spezifisch neu aufgegriffen werden (und die Stärkung betrieblicher Strukturen spielte auch in den Diskussionen und praktischen Anstrengungen der IG BAU durchgängig eine große Rolle) – faktisch aber doch zu beobachten ist.  

[15] In der jüngsten innergewerkschaftlichen Debatte der IG Metall ist dies unter der Formel ausgedrückt worden, wieder „in der Mitte der Zivilgesellschaft anzukommen“, wobei dann betont wurde, dass damit gerade nicht die „Neue Mitte“ einer „neuen Sozialdemokratie“ gemeint sei, sondern die soziologische Mitte der Gesellschaft (Zwickel 2003). Die Formulierung wird hier nicht so übernommen, weil sie die Spaltungsprozesse unserer Gesellschaft verdeckt, die unter den Vorzeichen neoliberaler Politik zunehmen, wohl sehend, dass die Gewerkschaften in ihrer Geschichte, gerade dort wo sie erfolgreich war eigentlich immer eher Organisationen der am Arbeitsmarkt starken, die jeweiligen Modernisierungsprozesse tragenden Beschäftigtensegmente gewesen sind. Insofern ist der Umstand, dass – anders als vor über einhundert Jahren die Schlosser und Dreher – heute die modernen Wissensarbeiter Formen kollektiver Interessenvertretung immer noch eher distanziert gegenüberstehen ein neues Problem einer  veränderten Organisationsumwelt, mit dem die Gewerkschaften ihre Schwierigkeiten haben. Die Unterrepräsentanz von am Arbeitsmarkt schwachen Arbeitnehmergruppen zieht sich hingegen durch ihre Geschichte hindurch. Dies macht deutlich, groß die Herausforderung tatsächlich ist, den von mir so bezeichneten Spagat zu schaffen.