Institut für Politikwissenschaft
Heinrich Epskamp
Von der fordistischen zur zukunftsfähigen Gewerkschaft: Anforderungen an das Organisationslernen
1. Funktionsverlust oder Organisationsversagen
Wird die aktuelle Entwicklung der Gewerkschaften, gekennzeichnet durch Mitglieder- und Bedeutungsverlust, sich ungebrochen fortsetzen, so werden die Gewerkschaften in Deutschland keine große Zukunft mehr haben. Die Frage ist, was zu dieser Entwicklung geführt hat und ob das Schicksal, das den Gewerkschaften droht, unabwendbar ist. Zu prüfen ist, ob es sich um Funktionsverlust oder Organisationsversagen handelt. Anders ausgedrückt: Werden die Gewerkschaften nicht mehr gebraucht, oder ist es so, dass sie zwar gebraucht werden, aber nicht zu gebrauchen sind? So alternativ, wie die Frage gestellt ist, lässt sich die Antwort leider nicht geben, weil Funktionsverlust zu Organisationsversagen führt und umgekehrt, also Ursachen und Wirkung nach dem "Henne und Ei" - Dilemma keine Entscheidung ermöglichen, von welchem Punkt denn sinnvoll auszugehen ist. Die Interdependenz des Verhältnisses lässt nur Akzentuierungen zu, nicht eingleisige Erklärungen. Die Akzentuierung hier liegt auf der Perspektive des Organisationsversagens.
Die Diskussion beginnt in der Regel aus der anderen Perspektive und dem schließe ich mich mal erst an: Ein möglicher Funktionsverlust wird meistens durch das Aneinanderreihen von "mehr denn je wird Gewerkschaft gebraucht"- Sätzen abgestritten. Aber diese Sätze bilden schon seit langem den Kern der gewerkschaftlichen Selbstversicherungsrhetorik, zumindest in der nicht kurzen Spanne meiner Erfahrungen in der Arbeit mit Gewerkschaften (über 30 Jahre). Immer gleiche Antworten können eigentlich nicht jederzeit stimmen. Also, wofür werden Gewerkschaften eigentlich gebraucht, was verbirgt sich hinter dem Begriff "Funktion"? Die Organisationstheorie weiss: alle Organisationen haben eine doppelte Zielsetzungen, eine externe, also den Zweck, die ihnen mit ihrer Gründung gesetzt wurde und die sie sich in ihr Stammbuch geschrieben haben sind, und eine interne, die Sicherung ihres Überlebens als Einrichtung, die die Existenz derjenigen garantiert, die in ihr arbeiten und durch sie Bedeutung erlangen.(vgl. Übersicht 1).
Übersicht. 1: Organisationszwecke Externe Funktion Existenzsicherung Ziele Interessen artikulieren und durchsetzen Identität bewahren und entwickeln Mittel Akzeptanz erreichen Status der Organisation sichern und ausbauen Funktionsverlust Organisationsversagen
Die in jedem der vier Felder in Übersicht 1formulierten Notwendigkeiten kann zu jeder in einem der anderen im Widerspruch stehen, das markiert die Standpunkte und Deduktionslinien, die die Fronten der innerorganisatorischen Auseinandersetzungen bestimmen. Zwei Typen lassen sich unterscheiden, die "Kann Deduktion" setzt meistens bei der Akzeptanz an, und behauptet, bezogen auf Gewerkschaften, "nur wenn wir genug Mitglieder haben, dann können wir die drei anderen Felder bedienen", die "Muss Deduktion" dagegen beharrt auf dem Standpunkt: "wir müssen bestimmte gesellschaftliche Aufgaben erfüllen (manchmal auch dann wenn die Mitglieder das nicht sofort begreifen), nur so werden wir auf Dauer ein politikgestaltender Akteur sein".
Krisen treten aber sowohl dann auf, wenn Mittel nicht reichen, wie auch wenn Ziele nicht stimmen. Genauer: Funktionsverluste lassen sich, grob skizziert", wie folgt diagnostizieren:
· Ziele:
Interessen lasse sich entweder nicht formulieren - sie sind, beispielsweise aufgrund der Verschiedenheit der Arbeits- und Lebenssituationen verschiedener Arbeitnehmergruppen zu heterogen, um sie auf einen Nenner zu bringen, oder lassen sich nicht durchsetzen oder aber, andere Akteure im gleichen Feld können das ganz oder teilweise das besser, beispielsweise in der Konkurrenz zwischen Berufsverbänden und Gewerkschaften .
· Mittel:
die Akzeptanz der Zielsetzungen ist bei den relevanten gesellschaftlichen Gruppen ist nicht geben, das führt zum Mitgliederschwund und Mobilisierungsdesastern.
Organisationsversagen liegt vor wenn
· bei den Zielen
Interessen der Identität widersprechen, also bezogen auf Gewerkschaften die Auseinandersetzung um den Flächentarifvertrag das Prinzip der Durchsetzung gleicher Entgelte für gleiche Arbeit in Frage stellt, und damit der Gewerkschaft als Akteur ein Aktionsfeld nimmt,
· bei den Mitteln
die Organisationsstruktur Handlungsoptionen verbietet oder Engagement verhindert. Unser Thema ist das des Organisationslernen als Kern einer Organisationsentwicklung, d.h. wir schauen ausgehend von der Problematik des Organisationsversagen in der Aktivierung von Potential an Mitteln und Einfluss auf die anderen Problemfelder.
2. Produkte oder Projekte: Wege der Organisationsentwicklung
Produkte sind Erzeugnisse des Produzenten, lediglich die Nachfrage, allenfalls ergänzt um Marktforschung, zeigt, ob sie ankommen. Produkte können zwar variabel sein, entsprechen aber immer der Organisationsstruktur des Produzenten, setzen also voraus, dass diese bezogen auf die Umwelt, zumindest im Prinzip, richtig aufgebaut ist. Gute Produkte sichern das Überleben der Organisation. Aber die Nachfrage nach ihnen kann schlagartig verschwinden, die sie herstellende Organisation ist dann obsolet, wenn sie nicht in der Lage ist, etwas ganz anderes zu produzieren. Das jüngste Beispiel ist die CD, die in einem raschen Siegeszug die Schallplatte verdrängte und die nun selbst durch die Möglichkeit alle nur wünschbare Musik aus dem Internet herunterzuladen, existentiell bedroht ist. Ob und wie die Musikindustrie diesen Wandel übersteht, ist offen.
Projekte dagegen machen die Organisationsstruktur selbst zur Variablen, lassen also offen, was zum Schluss produziert wird. Während beim Produkt die Kommunikation mit der organisationsrelevanten Umwelt auf den Akt des Kaufs, reduziert ist, also sozusagen digitalisiert ist, sind Projekte regelmäßig als Dialog zu konstruieren, lassen also mehr Umwelt und vor allem mehr Argumente in die Organisation hinein. Sie sind dadurch aber auch für Interessenimporte geöffnet, die in dem Grenzfall einer "feindlichen Übernahme" ihre Identität gefährden können.
Die Entscheidung eine Organisation mehr projekt- oder produktorientiert aufzustellen, ist keine die abstrakt zu treffen ist, sondern sie ist je nach der Situation, in der sich die Organisation befindet, schon vorgeprägt. Dazu eine kurze theoretische Skizze (vgl. dazu ausführlicher Epskamp u.a.2001,S. 81- 96):
Nicht nur bei individuellen Akteuren sondern auch in Organisationen entsteht so etwas wie eine Definition der Situation, diese entspricht dem organisationsspezifischen Niederschlag der Aussenwelt im Organisationsinneren. Diese Definition, nicht die "wirkliche Wirklichkeit", ist die Realität entsprechend der in der Organisation verfahren wird. Wie sie aussieht, ist durch die Art der "Sinnesorgane", mit der die Organisation die Aussenwelt wahrnimmt, bestimmt. Benutzt zum Beispiel eine Behörde ein Formular, so ist im weiteren Verarbeitungsprozess die Realität auf die Informationen beschränkt, die das Formular erfasst hat. Alles andere ist nicht mehr Gegenstand innerorganisatorischer Kommunikation, es ist verloren. Aber: alle Organisationen sind darauf angewiesen mit mehr oder minder formularanalogen Instrumenten die Komplexität der Umwelt auf die Informationen zu reduzieren, die die Organisation verarbeiten kann, um handlungsfähig zu bleiben.
Aus der Definition der Situation durch die Organisation werden dann die Handlungsoptionen abgeleitet. Diese bilden zusammen mit den Organisationsinteressen den Bezugsrahmen für die Entwicklung von Strategien in bezug auf Handlungen in der Aussenwelt aber auch auf die eigene Weiterentwicklung. Dabei muss eine Balance gefunden werden zwischen zwei Typen der Anpassung zwischen Organisation und Umwelt (vgl. Übersicht 2).