Institut für Politikwissenschaft

 

Übersicht über die Arbeiten des Hattinger Kreises im Rahmen des Projekts „Organisationslernen in Gewerkschaften“ (2001-2008)

 In den Jahren von 2001-2008 hat der Hattinger Kreis in einer Reihe von Workshops und Tagungen unterschiedliche Projekte und Prozesse des Organisationslernens in Gewerkschaften untersucht und vorgestellt, wobei allerdings nur zum Teil schriftliche Fassungen der Referate existieren.

 Im folgenden eine chronologisch geordnete Auswahl der wichtigsten Texte/Referate, die in

1.      Theoretische Aufrisse

2.      Fallbeispiele

gegliedert ist.

 (Anmerkung: Referate bzw, Texte, die schriftlich ausgearbeitet oder als Folienvorträge vorliegen, sind kursiv gedruckt)

 1.      Theoretische Aufrisse

 Ulrich Mückenberger (Uni/HWP Hamburg), 2003: Auswege aus der Rekrutierungsfalle?

 Helmut Martens (SFS Dortmund), 2003: Aufbrüche und blockierte Reformvorhaben -Gewerkschaftliche Organisationsreformen in den 1990ern

 Heinrich Epskamp (Uni/HWP Hamburg),2003: Von der fordistischen zur zukunftsfähigen Gewerkschaft – Anforderungen an das Organisationslernen

 Sylke Meyerhuber (Uni Bremen), 2004: Beiträge zur psychologischen Dimension von Organisationsentwicklungsprozessen

 Jürgen Prott (Uni/HWP Hamburg), 2004: Abwehrroutinen  in der Organisation gegenüber Neuorientierungen

 Heinrich Epskamp (Uni/HWP Hamburg), 2004: Auswege aus der Rekrutierungsfalle-Ergebnisse einer empirischen Untersuchung

 Werner Fricke (IRC), 2005: Das Modell der search-Konferenzen

 Rafael Menez /Christian Steffen (Uni Tübingen), 2004: Gewerkschaften als lernende Organisation – Die Zukunftsdebatte der IG Metall als komplexer Lernprozess

 Eric Oeverland (Norwegischer Forschungsrat)/ Werner Fricke (IRC), 2005: Von der Search- zur Dialogkonferenz

 Arne Klöpper (Uni Bremen), 2006, 2007: Mitgliederorganisation im Wandel. Strategien zur Mitgliedergewinnung in lernenden Organisationen: Fallbeispiele aus deutschen Gewerkschaften. (Diss-Projekt HBS)

 Ute Buggeln (Uni Hamburg), 2006, 2007: Alltag im Umbruch – Dialog zur Zukunft der Gewerkschaftsarbeit vor Ort. Bremer IG Metall Dialogkonferenz (Diss-Projekt HBS)

 Heiko Geiling (Uni Hannover), 2007: Gewerkschaften und soziale Milieus. Zwischenergebnisse aus einem HBS Forschungsprojekt

Andreas Boes (ISF München,) 2007: „Theoretisch bin ich frei“ Befunde aus einem Forschungsprojekt zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung in der IT - Industrie

 Ulrich Mückenberger (Uni Hamburg), 2007: Thesen zu „Protektionismus wider Willen

 Thomas Greven (FU Berlin), 2007: Zwischen Konkurrenz und Solidarität - Globale Handlungsoptionen für Gewerkschaften im Vergleich von Dienstleistungssektor und im verarbeitendem Gewerbe

Andreas Boes (ISF München), 2007: Hochqualifizierte unter Globalisierungsdruck - Herausforderungen für Gewerkschaften

 Ulrich Mückenberger (Uni Hamburg), 2008: Bedingungen kosmopolitischer Solidarität

 Richard Hyman (LSE London), 2008: Gewerkschaftliche Solidaritätspolitik im Spannungsfeld von Interessenausgleich und Standortkonkurrenz

 Thomas Greven (FU Berlin), 2008: Gewerkschaftliche Solidarität unter globalem Konkurrenzdruck

 2.      Fallbeispiele

Cornelia Knieper, Marc Nowak (ÖTV, ver.di), 2001, 2003, 2004: Call Center: Interessenvertretung unter Bedingungen entgrenzter Arbeitsverhältnisse

 Kurt Meier (IG BCE), 2003: Der organisatorische Modernisierungsprozess in der IG BCE

 Wolfgang Müller (IGM), 2003: Das Siemensprojekt der IG Metall Bayern

 Norbert Trautwein (ex HBV), 2003: Erfahrungen mit dem Strategieprozess der Gewerkschaft HBV

 Klaus Herrmann (IGM), 2003: Die Verbundkampagne „Angestellte“ der IG Metall (1988-1994)

 Frank Gerlach (HBS), 2003: Gewerkschaften als Akteure in der Regional- und Branchenpolitik

 Wille Bartz, Sandra Goldschmidt (connexx.av), 2003, 2004: Was zum Teufel ist connexx.av?

 Wigand Cramer (IGM, Berlin), 2003, 2004: Kriterien für einen erfolgreichen Einsatz der Kräfte – Das Siemens Projekt der IG Metall

 Claudia Schertel (ver.di),2003: Wer oder was ist Onforte? (Expertennetwerk Telearbeit, e-Learning etc.)

 Birgit Steinborn (BRV Siemens HH), 2003: Erfolg durch Beteiligung –Betriebsratsarbeit bei der Siemens AG, NL Hamburg

 Reinhard Bechmann, Werner Ruhnke (ver,di, Brandenburg), 2004: Qualitätsmanagement in ver.di

 Jörg Weigand (IGM Siegen), 2004: Erfolgsfaktoren gewerkschaftlicher Organisationsarbeit

 Sandra Goldschmidt (ver.di), 2004: Austrittsmotive von gewerkschaftlich Organisierten- Ergebnisse einer Rückholkampagne

Helmut Martens (SFS Dortmund), 2006: Das Forum Neue Politik der Arbeit

 Wolfgang Uellenberg-van Dawen (DGB Köln), 2006: Der Turnaroundprozess des DGB

 Klaus Dörre (Uni Jena), 2006: Global mitbestimmen – lokal gestalten. Bürgerschaftliches Engagement von Betriebsräten am Beispiel regionaler Strukturpolitik

 Wolfgang Uellenberg-van Dawen (DGB Köln), 2007: Gewerkschaftliche Interessenvertretung aus der Sicht einer DGB-Region am Beispiel der Metropolregion Köln

 Sabine Blum –Geenen (IGM Metall)/ Martin Bartmann (Uni Kaiserslautern), 2007: Europäische Arbeitnehmerkooperation vs. Standortkonkurrenz - Das General Motors Europa Projekt der IGM Metall

Uwe Woetzel (ver.di), 2007: Die Beteiligung von ver.di an der clean clothes Kampagne

 Holger Bartels (IG BAU), 2007: Die Strategie der BAU und der Europäischen Agrar- und Baugewerkschaften für die Belange der Wanderarbeiter

 Peter Bremme (ver.di Hamburg), 2007: Globale Solidarität am Beispiel von Organizing Kampagnen in weltweit vernetzten Unternehmen des Wachdienstes und der Gebäudereinigung

Stefan Rüb und Torsten Müller (FH Fulda), 2008: Formen institutioneller gewerkschaftlicher Solidaritätspolitik am Beispiel der Internationalen Rahmenabkommen (IFA) und der Europäischen Betriebsräte (EBR)

 Wilfried Schwetz (Hannover), 2008: Die transnationale Kampagne der United Steelworker (USW) gegen Kürzungen der Krankenversicherungsleistungen für Pensionäre bei Continental

 Ingeborg Wick (Südwind, Institut für Ökonomie und Ökumene, Siegburg), 2008: Die clean clothes campaign

 Hildegard Hagemann (Deutschen Kommission Justitia et Pax), 2008: Exposure- und Dialogprogramm’ mit deutschen GewerkschafterInnen und SEWA (Self-Employed Women’s Association) in Indien

 Holger Bartels (IG BAU), 2008: Projekte der IG BAU zu: „Faire Saisonarbeit“ undTransparenz in Agrarentlohnungssystemen

 Emilija Mitrovica (ver.di, Hamburg), 2008: Die Arbeit der Anlaufstelle für MigrantInnen ohne feste Aufenthaltserlaubnis („Papierlose“)

 

Zusammenstellung: Eberhard Schmidt, 15.9.2008

 

Hattinger Kreis                

Organisationslernen in Gewerkschaften -
Werden die Gewerkschaften zukunftsfähig?

EINLEITUNG

Die tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt lassen sich als „Entgrenzungen“ bislang geregelter Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen begreifen. Interessengegensätze und Konflikte im betrieblichen Alltag und auf der Branchenebene, die vordem in festgelegten Bahnen ausgetragen wurden, entbehren der klaren Zuordnung von Kompetenzen und Adressaten. Alte Interessengegensätze erscheinen vielfach nicht mehr so eindeutig und sind jedenfalls immer weniger fein säuberlich auf das System der Erwerbsarbeit bezogen. Betriebsräte und Gewerkschaften sehen sich neuen Problemlagen gegenüber, die mit den gewohnten Organisationsroutinen nicht mehr bearbeitbar erscheinen:

-         Die durchgängig beobachtbare Flexibilisierung der Arbeitszeit schafft eine Vielfalt nebeneinander existierender Arbeitszeitmodelle, die teilweise individuelle Spielräume erweitern, aber auch mit erhöhten Belastungen und Arbeitsverdichtungen einhergehen. Ein tariflich nur schwer regulierbares patchwork mit der Tendenz zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik ist entstanden.

-         In bestimmten Sektoren (etwa der new economy) brechen den Gewerkschaften die Verhandlungspartner auf der Gegenseite weg oder sind nicht mehr genau identifizierbar. Neuartige Partizipationsangebote an die ArbeitnehmerInnen korrespondieren mit antigewerkschaftlicher Orientierung.

-         Der Typ des neuen „Arbeitskraftunternehmers“ lässt sich über tarifvertragliche Regelungen kaum mehr einfangen, obwohl die Verhaltensanforderungen an ihn danach verlangen.

-         Der Betrieb als Bezugspunkt gewerkschaftlicher Organisation kommt in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes durch Ausgliederungen, Dezentralisierung oder Formen von Scheinselbständigkeiten gänzlich abhanden.

-         Die Entgrenzung einzelner Arbeitsmärkte, die einer globalen Arbeitskräftekonkurrenz ausgesetzt werden, unterläuft die gewerkschaftlichen Bemühungen um tarifvertraglichen Schutz und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

-         An die Stelle traditioneller Bindungsbereitschaft an die Gewerkschaft über die  Wahrnehmung gemeinsamer Arbeitnehmerinteressen setzen sich unternehmensbezogene Identitätstiftungen (Unternehmenskulturen), die die Distanz zur Gewerkschaft auf ihre Fahnen schreiben.

Damit geraten Betriebsräte und Gewerkschaften in eine Reihe von Dilemmata:

Sie sollen sich auf eine Vielfalt unterschiedlicher, koexistierender Interessen der Mitglieder und potentieller Mitglieder einstellen, aber gleichzeitig durchsetzungsfähig bleiben. Wie weit bedeutet das die Aufgabe des traditionellen Modells, vereinheitlichter Interessenvertretung mit zentraler Verhandlungsführung? Tritt an deren Stelle die berufsständische Verselbstständigung einzelner Mitgliedergruppen(à la cockpit)?

Sie müssen ihren Arbeits- und Interessenbegriff erweitern und ein neues Selbstverständnis (Leitbild) entwickeln, also ihr Vertretungsmandat neu definieren, um bei jungen, bei besser qualifizierten, vor allem auch bei bisher gewerkschaftsabstinenten Arbeitnehmerinnen „anzukommen“. Gleichzeitig müssen sie aber auch ihre Kernkompetenzen stärken, um angesichts der tarif- und betriebspolitischen Herausforderungen überhaupt vertretungsfähig zu bleiben. Wofür bleiben Gewerkschaften zuständig, wo ensteht die neue Kontur der Gewerkschaften? Welche Allianzen können eingegangen werden, um das gewerkschaftliche Gewicht in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken? Sind die Gewerkschaften mit der neuen Aufgabenzuschreibung überfordert oder ist das Kerngeschäft selbst nur noch zu bewältigen, wenn neue Interessen aufgegriffen werden?

Sie erkennen die Ansprüche und Interessen von bislang schwer zu organisierenden Arbeitnehmergruppen an, aber dabei droht besonders für die Industriegewerkschaften die Gefahr, sich zu weit von den Interessen und Geflogenheiten der Kernmitgliedschaft zu entfernen, die selber, gemessen an der sich verändernden Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft insgesamt, anteilsmäßig stetig abnimmt (Problem der Überalterung der Mitgliedschaft und der Konzentration auf die alten, männlichen Facharbeiter“eliten“). Hohe Bindungskraft und Öffnung für Vielfalt sind schwer gemeinsam zu optimieren. Wo liegt die zumutbare Balance?

Sie müssen mehr Dienstleistungen für die Mitglieder anbieten, aber diese Dienstleistungsorientierung kann auf Dauer in Konflikt mit der traditionellen Rolle der Gewerkschaften als solidarischer Wertegemeinschaft geraten. Ab wann führt die Kundenorientierung zur Schwächung der Kampfkraft der Organisation? Kann die ideologische, lebenslange Bindung durch neue Formen von Beteiligung ersetzt oder ergänzt werden?

Es sind mehr Mittel einzusetzen, um durch experimentelle und langfristig angelegte Organisierungsversuche (Aufbau von Netzwerken, Kampagnen... ) Mitglieder in den prekären Organisationsbereichen zu gewinnen. Aber bei sinkenden Mitgliederzahlen fehlen gerade dafür die Ressourcen. Wie lange lässt sich der notwendig erhöhte Mitteleinsatz durchhalten ohne die kurzfristige Kompensation in Gestalt von sichtbarem Mitgliederzuwachs?

Die Gewerkschaften stehen also in einer rundum turbulenten Umwelt vor der Aufgabe, ihre Organisation neu erfinden, um weiter bestehen zu können. Dazu gehört, dass sie sich als Institution und als Prozess verstehen und dabei vielfältigen dezentralen Aktivitäten und Strukturen Raum geben. Sie werden dann - neben dem betrieblichem - einen weiteren lebensweltlichen Ansatz verfolgen, der der work-life-balance gilt. Sie werden sich zu kompetenten Dienstleistern entwickeln, die die neuen Anforderungen an die Organisation aufgreifen, und damit für Mitglieder - und solche, die es werden könnten - attraktiver werden.

In allen DGB-Gewerkschaften wird heute gefragt, ob die notwendige Modernisierung der Gewerkschaften ohne einschneidende Veränderungen ihrer Organisationsstrukturen möglich sein wird. Das meint "Organisationslernen". So wie die Gewerkschaften derzeit beschaffen sind, sind sie kaum in der Lage, den neuen Verschränkungen zwischen Betrieb und übriger Lebenswelt oder auch der Internationalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse Rechnung zu tragen. Sie tun sich schwer, die "neuen" Beschäftigtengruppen - Hochqualifizierte, Frauen, Jugendliche - anzusprechen und einzubeziehen, die eine andere Sprache sprechen, andere Wertmuster tragen und sich andere Interessenpolitik versprechen. Von der Bewältigung dieser Fragen hängt aber die Zukunft der Gewerkschaften ab.

Auf dem Hattinger Forum 2003 und anschließenden workshops des Hattinger Kreises wurden diese Fragen von Gewerkschaftspraktiker/innen und Wissenschaftler/innen diskutiert. Die folgenden Texte entstammen diesem Kontext. Weitere Beiträge werden folgen.

Bremen, August 2004