Institut für Politikwissenschaft

INHALT

1. Hattinger Kreis

Möglichkeiten und Bedingungen des Organisationslernens von Gewerkschaften (Grundlagenpapier 2003)

2. Workshop des Hattinger Kreises (Bremen, Dezember 2001)

Entgrenzte Arbeitswelt - Hat die gewerkschaftliche Interessenvertretung noch Zukunft?

Ein Gespräch mit Expertinnen und Experten aus Betrieben und Gewerkschaften zu den Themen:

Erfahrungen mit neuen Zeitstrukturen: Vertrauensarbeitszeit

Entgrenzte Beschäftigungsverhältnisse: Call Center

Zeitpolitik, gender mainstreaming und  Gewerkschaften

 

1. Hattinger Kreis

Möglichkeiten und Bedingungen des Organisationslernens von Gewerkschaften

1.Die Rekrutierungsfalle

2. Gesellschaftlich-ökonomische Kontextbedingungen gewerkschaftlichen Handelns

2.1 Globalisierungsprozesse

2.2 Demographischer Wandel

2.3 Kultureller Wandel

2.4 Privatisierung öffentlicher Güter

2.5 Zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit

2.6 Ausdifferenzierung von Beschäftigteninteressen

3. Der Zustand der gewerkschaftlichen Organisation und Politik im Hinblick auf die veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Rahmenbedingungen

4. Organisationslernen

4.1 Wie können Organisationen lernen?

4.2 Notwendige Anforderungen an das Organisationslernen der Gewerkschaften

4.3 Beispiele für Erfolge und Schwierigkeiten bei der Öffnung der

gewerkschaftlichen Organisation für neue Fragestellungen und Bündnispartner

 

1. Die Rekrutierungsfalle

Alle deutschen Gewerkschaften stehen heute vor dem Problem abnehmender Mitgliederzahlen und einer Mitgliederstruktur, die die Beschäftigungsstruktur nicht adäquat widerspiegelt.

     Der Mitgliederrückgang: Der DGB hatte 1950 etwa 5,5 Mio. Mitglieder, von 1980 bis 1990 erreichte er insgesamt 7,9 Mio. Mitglieder. Nach der Vereinigung stiegen die Zahlen auf 11,8 Mio, um bis zum Jahr 2000 dann wieder trotz der "Vereinigungsgewinne" auf 7.7 Mio. Mitglieder zu fallen. Die IGM stagniert trotz Ostintegration und Fusionen bei 2,7 Mio. Die Gewerkschaft Ver.di hatte bei ihrem Fusionskongress im März 2001 2,89 Mio. Mitglieder, in den sechs Folgemonaten sank die Mitgliederzahl aber bereits ebenfalls um ca. 67.000.

·        Das Alter: Die Gewerkschaften sind von älteren Mitgliedern geprägt - ihnen gelingt der Zugang zu den Jüngeren nur schleppend. Die IG Metall z. B  hat 580000 Rentner als Mitglieder (22 - 23%). Bei den Trägern der Zukunft ist sie eher unterrepräsentiert - der Anteil von Mitgliedern unter 25 sinkt seit Jahren, von ca. 14 auf ca. 7%. Bei den Ver.di-Mitgliedern sind 16,7% über 60 und nur 5% unter 28 Jahre alt.

·        Das Geschlecht: Die IG Metall ist eine männlich geprägte Organisation - gewiss mehr als Ver.di. Der Frauenanteil der IG Metall beträgt nur 18,96% (gegenüber einem Beschäftigtenanteil im Organisationsbereich der IG Metall von ca. 45%), bei Ver.di sind es 49,34% (2000). Die Zukunft der Erwerbsarbeit aber ist, wenn nicht weiblich, so doch zumindest weiblich geprägt.

·        Status und Bildungsprofil: Arbeiter sind in der IG Metall überproportional in ihrer Mitgliedschaft vertreten. Die Zukunft aber gehört stark den Angestellten und den höher Qualifizierten - der Anteil der Hochschulabsolventen an der Gesamtzahl der Beschäftigten ist stark gestiegen. Der Mitgliedsanteil der Angestellten liegt in der IGM bei 17%, deutlich unter der Hälfte des Anteils an den Beschäftigten.

Man könnte sicher mehr solcher Strukturmerkmale sammeln. So ist z. B. die Zahl der unbefristet Beschäftigten zurückgegangen (in den letzten 25 Jahren von über 75% auf rd. 62%). Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um über 2 Mio. auf eine Quote von 17,3% angestiegen, bei den unter 30jährigen auf 20%. Die Mitgliederstruktur wird dessen ungeachtet dominiert von den "Normalarbeiternehmern".

Klar ist, dass die Diskrepanz zwischen Beschäftigungs- und gewerkschaftlicher Mitgliederstruktur nicht ohne Folgen für die Politik der Gewerkschaften bleibt.

In dem Maße, wie die Beschäftigten, die für die Zukunft wichtiger werden, nicht in hinreichendem Maße für den Beitritt gewonnen werden können, drohen die Gewerkschaften an Einfluß zu verlieren. Und: der Anteil von Mitgliedern, die nicht mehr im Erwerbsalter sind und daher für eine betriebsbezogene gewerkschaftliche Arbeit nicht mehr in Betracht kommen, steigt relativ zu den Erwerbsaktiven.

Wir wollen diese Problemlage zunächst für die IG Metall etwas vertiefen. Im Zukunftsreport der IGM (2001) heißt es: „Die IG Metall spiegelt in ihrer Mitgliederstruktur die bundesrepublikanische Industriegesellschaft  der 60er und 70er Jahre wider“ (S. 63). Trotz mehrfacher Versuche und Kampagnen in den vergangenen drei Jahrzehnten gelingt es der IG Metall nicht, den Mitgliederschwund aufzuhalten und insbesondere die unterdurchschnittlich vertretenen Gruppen der Frauen, Jugendlichen und der qualifizierten Angestellten in einem Maße zu rekrutieren, wie es deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland heute entspricht. Mehr noch: Die Kernbereiche der Politik der IG Metall sind in der Zeit und unter den Bedingungen des fordistischen Produktionsregimes entwickelt worden und erfolgreich gewesen; sie den veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen anzupassen und neue Formen gewerkschaftlichen Handelns und gewerkschaftlicher Organisation zu entwickeln, fällt der IG Metall außerordentlich schwer. Die 2001 begonnene Zukunftsdebatte ist ein Versuch, die Defizite präziser zu bestimmen und mit den Mitgliedern zu diskutieren. Erfolgreich wird die Zukunftsdebatte jedoch nur sein, wenn sie einen Prozess der Organisationsreform und der Neubestimmung gewerkschaftlicher Politik einleitet. Eine Voraussetzung dafür ist ein Lernprozess, der von den hauptamtlichen Funktionären der IG Metall getragen und gewollt ist. Wir nennen ihn Organisationslernen und wollen die Bedingungen und die möglichen Ausprägungen dieses Prozesses im folgenden diskutieren.

Bei Ver.di ist die Lage nicht prinzipiell anders. Zwar hat Ver.di einen viel höheren Frauenanteil als die IGM - aber auch er entspricht nicht dem gegenwärtigen und dem zu erwartenden Beschäftigtenanteil. Und in der Altersstruktur wie auch bei den Hochqualifizierten weist Ver.di dieselben Stagnationstendenzen auf. Das war bereits in den Quellorganisationen von Ver.di absehbar. So hatte die Gewerkschaft ÖTV mit der Kampagne "Zukunft durch öffentliche Dienste" bereits intendiert, sich als attraktiv und ausstrahlend zu präsentieren. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass Versuche dieser Art die eigentlichen mitgliedernahen Gewerkschaftsstrukturen weniger verändert haben, als von den höheren Gewerkschaftsinstanzen gewollt und eingeleitet war. Mit der Vereinigung von Ver.di zu einer Dienstleistungsgewerkschaft ist dieses Problem der Lösung nicht nähergekommen - eher kann man im Verlaufe des Vereinigungsprozesses von einer - organisationssoziologisch verständlichen - Zunahme der "Selbstbeschäftigung" sprechen.

Fortschritte sind nur in einzelnen Sektoren gemacht worden. Das Modell "connexx" auf dem Gebiet der neuen Medien ist ein erfolgreiches Paradebeispiel, wo auf Anliegen und Haltungen neuer potenzieller Mitgliedergruppen mit einer vollständigen Neuorientierung der organisatorischen, persönlichen und zeitlichen Gestaltung der gewerkschaftlichen Aktivität reagiert wurde. Ähnliches hat sich im Ver.di-Organisationsbereich etwa auf dem Gebiet von Call Centern und deren gewerkschaftlicher Aktivierung abgespielt. Interessant sind auch die Gleichberechtigungs- und Gender Mainstreaming-Aktivitäten der Organisation. Und sicher kein Zufall ist, dass Ver.di die "Zeitpolitik" zu einem von wenigen großen Zukunftsthemen ausgestaltet und auf diesem Feld z. B. auch mit dem Deutschen Städtetag kooperiert. Aber diese Beispiele, so vorwärtsweisend sie sich darstellen, beschreiben nicht den Alltag gewerkschaftlichen Handelns.

Auf der Basis der zu Beginn genannten Zahlen und Trends lassen sich nun Politikmodelle herausarbeiten, die angesichts der gegenwärtigen Mitgliederstruktur der Gewerkschaften wenig Chancen haben, berücksichtigt zu werden: Es können drei solcher Politikmodelle unterschieden werden[1]:

-         ein weibliches Politikmodell: Gleiche berufliche Chancen der Geschlechter bei insgesamt stärkerer Berücksichtigung der Vereinbarkeit von Beruf und außerberuflicher Lebensführung. Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, dass diese Priorität der Frauen aufgrund ihrer Unterrepräsentation in der Organisation wenig Durchsetzungschancen für die Politikbestimmung hat.

-         Ein IT-Angestelltenspezifisches Politikmodell: Ein flexibles und dynamisch sich entwickelndes (Tages-/Wochen- und Lebens) Arbeits- und Arbeitszeitmodell, das aber den beiderseitigen Interessen (der Betriebe wie der Beschäftigten) fair Rechnung trägt. Auch diese Priorität wird – aufgrund ihrer Unterrepräsentation in der Organisation – wenig Durchsetzungschancen für die Politikbestimmung haben.

-         Ein jugendliches Politikmodell: Die Dienstleistungs-, IT- und Wissensgesellschaft verlangt – auch von den „Selbstbestimmern“ – zunehmende Weiterbildungsbereitschaft, lebenslanges Lernen. Aber wird diese Priorität – bei der gegenwärtigen Unterrepräsentation Jugendlicher in der Organisation – wirklich radikale Durchsetzungschancen für die Politik haben?

Diese drei Politikmodelle sind ausschlaggebend für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften. Wenn sie nicht zu überzeugend vorgetragenen Bestandteilen der Politik der Gewerkschaften werden, werden die Gewerkschaften bei den Personengruppen keinen Anklang finden, für die sie in besonderer Weise charakteristisch sind. Und dann wird sich die Rekrutierungsfalle fortsetzen

2. Gesellschaftlich-ökonomische Kontextbedingungen gewerkschaftlichen Handelns.

Es wäre verkürzt, die genannten Defizite der Gewerkschaften direkt und ausschließlich auf ihre gegenwärtigen Organisationsstrukturen und Politikmuster zurückzuführen. Zwar gibt es einen solchen Zusammenhang in vielfältiger Weise (zum Beispiel: Art der Rekrutierung von Funktionsträgern; mangelnde Öffnung der Organisation für neue Bündnispartner und Handlungsfelder, etwa in regionalen Zusammenhängen; noch immer mangelnde Flexibilität in der Tarifpolitik wie auch in der Arbeitszeitpolitik; das Fehlen flexiblerer Formen der Mitgliedschaft wie Mitgliedschaft auf Zeit, projektförmige Kooperation mit Interessierten; unzureichende bzw. fehlende demokratische Beteiligung in der Organisation und darüber hinaus in Betrieben, Wohnvierteln, Regionen), aber eine erfolgversprechende, d.h. Veränderungen bewirkende Diskussion organisatorischer Schwächen setzt das Verständnis der veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Kontextbedingungen voraus. Anders gesagt: Die Gewerkschaften leiden nicht deshalb unter Mitgliederschwund und einer veralteten Mitgliederstruktur, weil sie bestimmte Zielgruppen immer schwerer erreichen, sondern alle Defizite haben zwei gemeinsame Ursachen: (a) dass das Bewusstsein veränderter Kontextbedingungen in der Organisation und bei ihren Funktionsträgern nicht ausreichend geschärft ist oder sich nur auf Segmente der veränderten Handlungsbedingungen bezieht, nicht aber auf ihren interdependenten Zusammenhang und dass (b) die traditionellen Politikmuster und organisatorischen Strukturen unter den aktuellen gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen nicht mehr greifen.

 

Eine Passage aus einem Thesenpapier zur Zukunfts- und Reformfähigkeit der Gewerkschaften von Helmut Martens verdeutlicht das: „Der Zukunftsreport der IG Metall behandelt die Mitbestimmung ... in der Weise, dass sie nach dem Kern dessen fragt, was heute die institutionalisierte Mitbestimmung noch ausmacht, also nach der betrieblichen Mitbestimmung. In Zeiten, in denen unternehmerische Partizipationsangebote an die einzelnen Beschäftigten an Bedeutung gewonnen haben – in wie widersprüchlicher Weise auch immer – und in denen zum anderen die Mitbestimmungsmöglichkeiten in bezug auf strategische Unternehmensentscheidungen geschrumpft sind, sich unter Vorzeichen der Globalisierung überhaupt die Orte, an denen solche Entscheidungen getroffen werden, verschoben oder scheinbar „verflüchtigt“ haben und es gegenüber den zunehmend am Shareholder-Value orientierten Global Players immer mehr darum geht, in den jeweiligen Regionen Stakeholder-Interessen zu artikulieren und in Entscheidungsprozesse einzubringen, halte ich diese Behandlung von Mitbestimmungsfragen für eine wirkliche Zukunftsdebatte für zu kurz gegriffen“[2].

In diesem Sinne ist auf die folgenden Kontextbedingungen gewerkschaftlichen Handelns und gewerkschaftlicher Organisation hinzuweisen. Nicht alle Felder sind mit Mitteln gewerkschaftlicher Politik gestaltbar. Darum geht es hier auch nicht, sondern es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vergegenwärtigung der gesellschaftlich-ökonomischen Situation eine Voraussetzung dafür ist, dass beim Thema Organisationslernen nicht zu kurz gegriffen wird.

2.1 Globalisierungsprozesse

„Globalisierung ist unsere Lebenswelt“[3]. Unter Globalisierung ist hier vor allem die Internationalisierung spekulativer Kapitalbewegungen und ihre Abkopplung von den realwirtschaftlichen Prozessen zu verstehen. Die Summe der internationalen spekulativen Finanzströme beträgt weltweit ein Vielfaches des weltweiten BSP (die genaue Zahl müsste nachgeschlagen werden).

Die Internationalisierung der spekulativen Kapitalbewegungen hat gravierende ökonomische, auch realwirtschaftliche Folgen. Über Kapitalflucht (Steueroasen) führt sie zu sinkenden Einnahmen der öffentlichen Hände; sie verstärkt die Entwicklung zu einer Kombination von öffentlicher Armut und privatem Reichtum und verschärft die Spaltung der Gesellschaft in Arme und (wenige) Reiche. Sie verschärft die Investitionslücke: da die Spekulationsgewinne mögliche Profite aus Realinvestitionen übersteigen, steigt der Anteil nicht investierten Kapitals weltweit. Beides vergrößert die Risiken von Arbeitslosigkeit, zumal eine beschäftigungsfördernde Wachstumspolitik angesichts leerer öffentlicher Kassen, privater Investitionszurückhaltung und zu hohen Realzinsen (Krugman) immer schwieriger durchzusetzen ist. Schließlich erzeugt und verschärft die internationale Freizügigkeit des Kapitals den Standwortwettbewerb zwischen Regionen, der häufig mit Sozialabbau, der Einschränkung öffentlicher Leistungen und der Privatisierung öffentlicher Güter geführt wird.

Globalisierung ist gestaltbar (wenn auch kaum für Gewerkschaften), sie ist politisch gewollt. Die Freizügigkeit der Kapitalmärkte wie auch der Handelsbeziehungen ist zwischen den Nationalstaaten vereinbart (mit den Ländern der Dritten Welt weniger freiwillig als zwischen den reichen Industrienationen, aber immer mit den USA als treibender Kraft) und mithilfe vertraglich geschaffener internationaler Institutionen wie IMF, WTO, GATT und in Zukunft GATS überwacht und durchgesetzt.

Die freie Beweglichkeit des Kapitals[4] hat auf der Seite der Arbeit keine oder nur eine unvollkommene Entsprechung. Es gibt keinen globalen Arbeitsmarkt. Trotzdem ist als Folge der weltweiten Beweglichkeit des Kapitals eine internationale Reservearmee an Arbeitskräften prinzipiell aller, vor allem aber gering Qualifizierter in Billiglohnländern ständig verfügbar.

Auch die seit zwei Jahrzehnten steigende Sockelarbeitslosigkeit ist nicht nur, aber doch auch durch internationale Freizügigkeit und die spekulative Verwendung großer Teile des Kapitals verursacht. Sie hat leere Sozialkassen, eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose zur Folge. Die Mittelschichten sind immer weniger bereit, die Sozial- und Gesundheitssysteme solidarisch mitzufinanzieren, d.h. wir erleben einen allgemeinen Rückgang von Solidarität in der Gesellschaft. In den sozialen Sicherungssystemen wollen Reiche nicht mehr für Arme, Gesunde nicht mehr für Kranke zahlen.

Trotz vergleichsweise eingeschränkter Mobilität der Arbeit gibt es wie in allen reichen Industrieländern einen verstärkten Zuwanderungsdruck, und zwar nicht nur als unfreiwillige Zuwanderung aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern in zunehmendem Maße auch im Interesse der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland.

2.2 Demographischer Wandel

Die Überalterung der Gesellschaft bei gleichzeitigem Rückgang der Geburtenrate verschärft die finanzielle Krise der Sozialkassen und gefährdet wie schon die steigende Sockelarbeitslosigkeit die solidarische Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, hier: Abbau der Solidarität zwischen den Generationen.

2.3 Kultureller Wandel

In den vergangenen Jahrzehnten haben die

-         Emanzipationsbewegung der Frauen

-         der ständige Wandel der Jugendkultur

-         die Individualisierung als gesellschaftlicher Habitus

einen tiefgreifenden kulturellen Wandel zur Folge gehabt. Die gewerkschaftlichen Organisationen haben sich diesem kulturellen Wandel weitgehend verschlossen, was nicht nur mit der traditionellen Aufgabenbestimmung der Gewerkschaften (Flächentarifvertrag, institutionelle Formen betrieblicher Mitbestimmung) zu tun hat, sondern auch mit der traditionellen Praxis der Rekrutierung von gewerkschaftlichen Funktionsträgern.

Folge dieser jahrzehntelangen Diskrepanz zwischen kulturellem Wandel und gewerkschaftlicher Organisation ist die Rekrutierungsfalle (besonders der IG Metall), gekennzeichnet durch die seit drei Jahrzehnten bekannten Schwierigkeiten, vor allem Frauen, Jugendliche und qualifizierte Angestellte als Mitglieder zu gewinnen. Hinzu kommt der allgemeine Mitgliederschwund der Gewerkschaften, Folge einer Reihe von Ursachen: Arbeitslosigkeit; Festhalten an traditionellen Politikformen statt inhaltlicher Öffnung etwa für Partizipationswünsche und zunehmend ausdifferenzierte Interessen der Beschäftigten; Individualisierungsprozesse in der Arbeits- und Lebenswelt, zeitweise verstärkt, aber auch überschätzt, durch die Welle der „New Economy“ in den 90er Jahren.

2.4 Privatisierung öffentlicher Güter

Nicht nur als Folge leerer öffentlicher Kassen, sondern verstärkt noch durch den von den USA ausgehenden weltweiten Druck zur Liberalisierung der Märkte sowie zur Privatisierung und Vermarktung öffentlicher Güter: kommunale Wasserversorgung, öffentlicher (Nah-) Verkehr, Abfallbeseitigung, neuerdings auch „privatization of public welfare“ durch „work to welfare“[5]

Mit der Privatisierung öffentlicher Güter wird auch Öffentlichkeit im gesellschaftlich/politischen Sinn eingeschränkt. Die Beziehungen zwischen Menschen werden mehr und mehr von ökonomischem Kalkül bestimmt und durchdrungen; Interesse für und Anteilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, Vertrauen und Empathie in zwischenmenschlichen Beziehungen schwinden, weil sie im ökonomischen Sinn riskant sind, sich „nicht rechnen“. Mit dem schleichenden Einzug von Rechenhaftigkeit in unsere gesellschaftlichen Beziehungen tragen wir alle stillschweigend zur Privatisierung öffentlicher Räume und Güter bei (so wie die stillschweigende Akzeptanz undemokratischer Praktiken für die Herrschaft des real existierenden Sozialismus in Osteuropa jahrzehntelang seine Legitimationsbasis gewesen ist). Die Verteidigung von öffentlichen Räumen,[6] die durch den neoliberalen Privatisierungs- und Vermarktungswahn verloren zu gehen drohen, gehört zu den zentralen, nicht nur gesellschaftlichen und ökonomischen, sondern auch kulturellen Aufgaben der Gewerkschaften. Schließlich diente eine solche Politik auch der Sicherung von Beschäftigung, und zwar auf eine vorausschauende Weise, die der Feuerwehrfunktion von Sozialplänen und Beschäftigungsgesellschaften bei drohender Arbeitslosigkeit mittel- und langfristig überlegen ist (wie übrigens auch dem Versuch der Vereinnahmung in einem nationalen Bündnis für Arbeit).

2.5 Zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit

Mit Entgrenzung umschreiben wir, dass herkömmliche Begrenzungs- und ‚Definitionsfaktoren’ des Arbeitslebens, die den dort tätigen Akteuren – eben auch Beschäftigten, Betriebsräten, Gewerkschaften – ‚Sinn und Handlungsangebote’ machten, gegenwärtig deutliche Erosionstendenzen aufweisen und zum Teil schon gar nicht mehr existieren. Interessengegensätze und Konflikte im betrieblichen Alltag und auf der Branchenebene, die vordem in festgelegten Bahnen ausgetragen wurden, verlieren dabei die klare Zuordnung von Kompetenzen und Adressaten. Die Beschäftigten, Betriebsräte und Gewerkschaften sehen sich Problemlagen gegenüber, die mit den gewohnten Organisationsroutinen nicht mehr bearbeitbar erscheinen:

-         Die durchgängig beobachtbare Flexibilisierung der Arbeitszeit schafft eine Vielfalt nebeneinander existierender Arbeitszeitmodelle, die teilweise individuelle Spielräume erweitern, aber auch mit erhöhten Belastungen und Arbeitsverdichtungen einhergehen. Ein tariflich nur schwer regulierbares patchwork mit der Tendenz zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik ist entstanden.

-         In bestimmten Sektoren (etwa der new economy) brechen den Gewerkschaften die Verhandlungspartner auf der Gegenseite weg oder sind nicht mehr genau identifizierbar. Neuartige Partizipationsangebote an die einzelnen Arbeitnehmer korrespondieren oft mit antigewerkschaftlicher Orientierung.

-         Der Typ des neuen ‚Arbeitskraftunternehmers’ lässt sich über tarifvertragliche Regelungen kaum mehr einfangen, obwohl die Verhaltensanforderungen an ihn danach verlangen.

-         Der Betrieb als Bezugspunkt gewerkschaftlicher Organisation kommt in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes durch Ausgliederungen, Dezentralisierung oder Formen von neuartiger Selbständigkeit und Scheinselbständigkeit gänzlich abhanden.

-         Die Entgrenzung einzelner Arbeitsmärkte, die einer globalen Arbeitskräftekonkurrenz ausgesetzt werden, unterläuft die gewerkschaftlichen Bemühungen um tarifvertraglichen Schutz und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

-         An die Stelle traditioneller Bindungsbereitschaft an die Gewerkschaft über die Wahrnehmung gemeinsamer Arbeitnehmerinteressen setzen sich unternehmensbezogene Identitätsstiftungen (Unternehmenskulturen), die die Distanz zur Gewerkschaft auf ihre Fahnen schreiben.

2.6 Die Ausdifferenzierung von Beschäftigteninteressen

Mit der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung der Arbeit, die eine zunehmende Vielfalt unterschiedlicher betrieblicher Arbeitsformen zur Folge hat, aber auch mit der Individualisierung von Lebensformen, mit der Emanzipation von Frauen und schließlich mit der Internationalisierung von Kapital und Arbeit sind eine Vielzahl differenzierter Interessen von Beschäftigten verbunden. Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Politik und andere gesellschaftliche Institutionen (um nicht zu sagen: die Gesellschaft insgesamt) stehen damit vor der Schwierigkeit, neue Formen der Solidarität zu entwickeln, in denen die vielfältigen Interessen der Beschäftigten aufgehoben sind (Rainer Zoll). Solidarität bezeichnet immer mehr das Engagement für die Verbesserung und Entfaltung individueller Lebenslagen in einem gemeinsamen, weil nur so machtvollen Interessenverbund.

Allerdings ist es unter Bedingungen der Globalisierung und der nachhaltigen Entwicklung der Welt-Industriegesellschaft nicht mehr möglich, gewerkschaftliche Politik ausschließlich an einem auf den nationalen Rahmen beschränkten Verständnis von Arbeitnehmerinteressen zu orientieren. Soziale Gerechtigkeit muss global, nicht national gesehen werden.

3. Der Zustand der gewerkschaftlichen Organisation und Politik im Hinblick auf die veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Rahmenbedingungen

Die noch immer vorherrschende Orientierung gewerkschaftlicher Organisation und Politik (vor allem in der IG Metall) wird durch die Interessen der traditionellen Facharbeiterschaft bestimmt. Frauen, Jugendliche und qualifizierte Angestellte spielen in der Organisation wie in der gewerkschaftlichen Politik noch immer nicht die ihnen zukommende Rolle. Weitere Beschränkungen ergeben sich aus der Dominanz der nationalen Perspektive in der Beschäftigungspolitik auf betrieblicher und sektoraler Ebene. Die Koordinierung von Interessenvertretung in internationalen Konzernen über die nationalen Grenzen hinweg steht noch in den ersten Anfängen, obwohl erste Erfolge durchaus vorzuweisen sind, die auf dem Hattinger Forum auch vorgestellt werden sollten.

Aber das Problem sitzt tiefer. Weder unter den Beschäftigten noch in ihren gewerkschaftlichen Organisationen ist das Bewusstsein verbreitet, dass auch die Beschäftigten in Deutschland zu den Nutznießern (Gewinnern) der Globalisierung gehören. Ihr Lebensstandard ist weit besser als der von Beschäftigten in Billiglohnländern, ganz zu schweigen von den Working Poor[7] in den USA und den Sweatshops Südostasiens.[8] Das ist nicht nur, aber doch auch eine Folge der ökonomischen Ungleichgewichte zwischen hoch industrialisierten Ländern und der Dritten Welt (um nicht zu sagen: ihrer Ausbeutung durch internationales privates Kapital), stabilisiert durch die von den Industriestaaten geschaffenen internationalen Institutionen wie WTO, IMF, GATT und künftig GATS.

Angesichts dieser Situation gilt es für die Gewerkschaften, ein Verständnis und eine Politik internationaler Solidarität zu entwickeln, die auch die Interessen von Arbeitnehmern in den Ländern der Dritten Welt berücksichtigt. Das ist schwer und höchst unpopulär zu sagen, aber es ist geboten – nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus wohlverstandenem eigenem Interesse. Es gibt zwar gewerkschaftliche Kampagnen in Betrieben, die Toleranz mit Migranten am Arbeitsplatz zu fördern suchen, doch sind sie nicht immer erfolgreich. Noch immer ist die Einsicht unter Arbeitnehmern nicht weit verbreitet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass die einwandernden Arbeitskräfte nicht immer und nicht automatisch Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze sind (und zwar weder bei den hoch, noch bei den gering qualifizierten Tätigkeiten). Soweit ausländische Arbeitskräfte als Konkurrenten um Arbeitsplätze eingesetzt und zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, sind dafür die sie beschäftigenden Unternehmen (zum Beispiel in der Bauwirtschaft) zu kritisieren, aber nicht die zugewanderten Arbeitskräfte. Ausländerfeindlichkeit ist auch in diesen Fällen weder angebracht, noch löst sie das Problem von Lohndumping.

4. Organisationslernen[9]

4.1      Wie können Organisationen lernen?[10]

Organisationen als kollektive Akteure in ihrer Umwelt

Gewerkschaften folgen wie alle großen Organisationen bestimmten Regeln, die zusammen mit ihren Interessen den Bezugsrahmen

für die Entwicklung von Strategien in bezug auf Handlungen in der Außenwelt, aber auch auf die eigene Weiterentwicklung bilden. Dabei müssen sie eine Balance finden zwischen zwei Typen der Anpassung zwischen Organisation und Umwelt:

Beim ersten Anpassungstypus verändert die Organisation ihre eigene Struktur so, dass sie sich besser in die Umwelt einfügt. Sie passt sich der Umwelt also an (Assimilation).

Im zweiten Fall verändern Organisationen die Umwelt so, dass deren Struktur zu ihrer kompatibel ist. Die Organisation passt die Umwelt an sich an (Adaptation).

Welcher Typ der Anpassung in einer Organisation vorherrscht, hängt davon ab, wie viel Einfluss sie auf ihre Umgebung hat. Ist die Umwelt komplex, also durch viele Einflussfaktoren geprägt, welche die Organisation selbst nicht kontrollieren kann, und verändert sich die Umwelt rasch und nicht vorausschaubar, ist also turbulent, so bleibt der Organisation, will sie fortbestehen, nichts anderes übrig als sich diesen Veränderungen anzupassen. Sie wird selbst komplexer und turbulenter. Ist die Umwelt durch wenige Einflussfaktoren, welche die Organisation prognostizieren oder sogar kontrollieren kann, geprägt, kann die Organisation die Umwelt in ihrem Sinne beeinflussen, sie selbst bleibt einfacher und stabiler.

Wenn eine Organisation sich in einer komplexen und turbulenten Situation erfolgreich assimiliert hat und dadurch Einfluss und Bedeutung für ihre Umgebung gewinnt, kann sie die Richtung der Entwicklung umkehren. Sie geht von der Assimilation zur Adaptation, also von der passiven zur aktiven Anpassung über, ruht sich sozusagen auf ihren Lorbeeren aus, bis die Umwelt wieder komplexer und turbulenter wird. Es lässt sich so etwas wie ein Gesetz der erfolgsbedingten organisatorischen Trägheit formulieren, nach dem "lernende Organisationen", (das sind eher die, welche sich durch Selbstveränderung an die Umwelt  anpassen), wieder zu "herrschenden " Organisationen werden, die versuchen, ihre Umwelt für sich so bequem wie möglich zu gestalten.

Prinzipien lernender Organisation

Aus der Sicht der Handelnden in Organisationen ist Überleben und Identität der Organisation die Voraussetzung dafür, das weiter zu tun, was sie können und womit sie sich mehr oder weniger identifizieren: Aus der Sicht der Organisation als Akteur ist Veränderung und zwar als Steuerung der gerade beschriebenen Anpassungsprozesse Voraussetzung ihrer weiteren Existenz. Zwischen beiden kann ein Widerspruch stecken; um ihn zu lösen, müssen organisatorisches und individuelles Handeln aufeinander bezogen werden. Dieses als einen Prozess ständiger Entwicklung zu einzurichten, ist das Prinzip der lernenden Organisation.

Auf der einfachen Stufe ist Lernen reaktives Anpassen an die Umwelt. Das "organisationelle oder institutionelle Wissen steckt in den personenunabhängigen anonymisierten Regelsystemen, welche die Operationsweise eines Sozialsystems definieren"[11]. Die Personen müssen die Regeln lediglich kennen und befolgen. Diese Systeme verändern sich entweder dadurch, dass Routinen ausscheiden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, weil die entsprechenden "Fälle" nicht mehr auftreten, oder dadurch, dass sie nach dem Prinzip der Erweiterung ergänzt werden. Die Erfassung der Umwelt ist schematisch - idealtypisch durch eine Art Formular, das als Wahrnehmungssystem nur das an Informationen hineinlässt, was die Organisation nach ihrer eigenen Verfahrensweise verarbeiten will. Der kollektive Akteur lernt also nur dann, wenn Routinen nicht mehr genutzt werden oder "selbstähnlich" erweitert werden müssen. Der Katalog bleibt als Prinzip und im Prinzip intakt. Lernen erfolgt also nur reaktiv und nicht aufgrund eines eigenen Impulses, etwa durch Entwicklung einer neuen Idee der Rolle der Organisation in der Welt. Wenn sich Organisationen auf dieses Lernprinzip beschränken, müssen sie "mächtig" sein.

Auf der Stufe des komplexen Lernens enthält das Organisationswissen nur noch die Horizonte und Fluchtpunkte der Orientierung. Es werden keine Regeln mehr vorgeschrieben, sondern auf Prinzipien verwiesen, die als Leitbildkonfiguration insgesamt so etwas wie die Selbstdefinition der Aufgaben durch die Organisation umreißen. Das Wissen der Organisation verändert sich jetzt durch Innenimpulse, also dadurch, dass das Organisationsprinzip eine eigenständige Willensbildung im System erzwingt. Das Wahrnehmungssystem der Organisation orientiert sich am Prinzip der doppelten Kontingenz (im Sinne von Parsons u. Luhmann). Es entwirft Szenarien, in denen die Organisation sich nicht passiv weiterentwickelt, sondern in einer Balance zwischen Reaktion auf Veränderungen der Umwelt und der Verwirklichung eigener Prinzipien in dieser Umwelt. Organisationen können mit diesem Lernprinzip Macht gewinnen.

Um aber den Übergang von dem einen zum anderen Typ der lernenden Organisation, im Sinne einer bewussten und gesteuerten Entwicklung durchlaufen zu können, muss im Prinzip die dritte Stufe des Lernens erklommen werden. Erst dort, durch reflexives Lernen, wird der Lernmechanismus selber, also die leitenden Prinzipien der Entwicklung von Regelwerken, Gegenstand der Reflexion. Wiesenthal[12] konstatiert, dass auf der Ebene der Organisation als Akteur diese Lernstufe nicht plausibel konkretisiert werden kann, weil eine sich nach einem bestimmten Prinzip verändernde Organisation dieses Prinzip gleichzeitig nicht selbst wieder zum Gegenstand von Veränderung machen kann, wenn Handlungsorientierung noch möglich sein soll. Möglicherweise kann mit der Institutionalisierung diskursähnlicher Auseinandersetzungen die Organisation diese Stufe erreichen. Jeder und jede muss im Diskurs jeweils die eigenen Kriterien argumentativ zur Disposition stellen und ist damit gezwungen, die Mechanismen der eigenen Verhaltensveränderung zu überdenken. Das Organisationswissen muss dann über Verfahren verfügen, Diskurse (im strengen Sinne von Habermas) soweit wie möglich anzunähern. (Epskamp, Buchholz u.a. 2001).[13] Erst Organisationen, welche die Stufe des reflexiven Lernens erklimmen können, erreichen die Fähigkeit Identität als Prozess einer internen Bewusstseinswerdung fortzuentwickeln.

Organisationsentwicklung nach dem Prinzip der lernenden Organisation birgt ihre eigenen Probleme: 

1.      Lernende Organisationen höherer Stufen sind "unzuverlässig". Jeder Fall kann zum Einzelfall werden. Garantien, bestimmten Ansprüchen zu genügen, können so schlecht eingehalten werden.

2.      Lernende Organisationen können, wie alle Akteure, irren. Einmal steigt die Zahl der Akteure in der Organisation, die Entscheidungen treffen, und damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit falscher Entscheidungen. Durch die Notwendigkeit, sich in einer "inneren" wie "äusseren" Welt, die jeweils komplex und turbulent ist, zu orientieren, sind mehr Informationen in der Organisation zu verarbeiten und damit steigt das Risiko, die Übersicht zu verlieren - entsprechend der von Wiesenthal zitierten (S. 143) Problemformel der Informationsgesellschaft „more information generally leads to more uncertainty“.

3.      In lernenden Organisationen höherer Typen besteht immer die Möglichkeit des "Interessenimports", die weitgehend autonomen individuellen Akteure können ihre Autonomie nutzen, um eigene Ziele zu verfolgen.

Konsequenzen für die Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen der individuellen Akteure

Die Grundtatsache ist eher banal: Kollektive Akteure können nur handeln, wenn die Menschen, die in ihnen arbeiten, sich so verhalten, wie es den Strukturen und den Zielen der Organisation entspricht. Grundsätzlich gilt dabei das Verhältnis von "Ermöglichung" und "Gefährdung" (Luhmann), institutionelle Regeln legen den Rahmen subjektiver Sinnfindung fest, engen ihn aber auch ein, subjektive Sinnsetzung orientiert sich an den Regeln, kann diese aber auch zur Disposition stellen.

Wenn Organisationen in komplexen und turbulenten Umwelten leben müssen und erfolgreich sein wollen - und davon kann im Falle der Gewerkschaften wohl ausgegangen werden -, ist es so, dass sie als lernende Organisationen der zweiten und dritten Stufe handeln müssen. Daraus folgt:

1.        Dass sie ihren individuellen Akteuren ein relativ hohes Maß von Autonomie gewähren müssen, also darauf angewiesen sind, dass diese sich mit den Zielen und Verfahrensweisen der Organisation identifizieren (psychologisch formuliert: Sie sind auf Primärmotivation angewiesen). Organisationstechnisch erfordert das die Konstruktion einer überzeugenden "Leitbildkonfiguration". Als Instrument der Personalentwicklung muss dafür ein System der "intelligenten Partizipation" etabliert werden. Identifikation setzt voraus, dass die eigenen Interessen reflexiv in Beziehung gesetzt werden zu denen der Organisation.. Sie können und sollen nicht darin aufgehen, aber sie müssen sich soweit entsprechen, dass eine Handlungslinie zu finden ist, die kein Interesse prinzipiell abschaltet. Um das zu lernen, muss es geübt werden.

Beispiel: Durch die Einführung eines horizontal (also funktional) und nicht vertikal (also hierarchisch) gegliederten Systems der Zuordnung von Entscheidungskompetenz werden die Konfliktlinien einer Organisation von der Vertikalen in die Horizontale gekippt. Die Auseinandersetzung folgt nicht mehr den Spielregeln des Beschwerens  und Klagens über den Vorgesetzen im Verbund mit den Kollegen, sondern die Kollegen sind jetzt die potentiellen Gegner. Die eigene Arbeit ist nichts mehr Auszuführendes, sondern eben das Eigene.

2.      Im Fall der "kognitiv" lernenden Organisation, müssen die individuellen Akteure die Kompetenz besitzen, sich reflexiv bezogen auf das Verhältnis Organisation Außenwelt zu verhalten, organisationstechnisch muss dafür ein entsprechendes Wahrnehmungssystem (Informations- und Wissensmanagement) zur Verfügung stehen. Richtigkeit des Handelns muss nicht als Habitus einer adäquaten Anwendung gekonnt sein, sondern wird zur Konstruktion. Das setzt die Distanzierung von den eigenen Interessen voraus, also die Fähigkeit, sich mit dem Standpunkt des anderen (virtueller Rollentausch ) zu identifizieren.

Beispiel: In einer Untersuchung des Reformprozesses in einem Hamburger Bezirksamt ließen sich vier Typen des Vertretens der Anliegen der Organisation unterscheiden:

- Moderatoren sind solche, die überzeugen wollen, sich aber auch überzeugen lassen. Ihr Entscheidungsmodus ist der des Konsenses, die Form ihrer Kommunikation variiert.

- Stilisten sind solche, die eine bestimmte Kommunikationsform für überlegen halten, sie haben ihre Routine entwickelt und halten sich daran. Ihr Entscheidungsmodus ist der der Verfahrensadäquanz, die Form ihrer Kommunikation ist stabil. Die Gegenstände des Verfahrens haben für sie eher sekundäre Bedeutung.

- Aufklärer versuchen auch zu überzeugen, lassen sich aber weniger überzeugen als die Moderatoren. Sie haben ihre Aufgabe reflektiert und sich eine feste Meinung gebildet über die Reichweite und den Gegenstand möglicher Entscheidungsspielräume. Ihr Entscheidungsmuster ist das der richtigen Anwendung ihrer Prinzipen auf den Fall, die Form ihrer Kommunikation variiert.

- Exekutoren wissen, wie was zu machen ist. Sie ordnen Fälle Entscheidungen zu, die Form ihrer Kommunikation ist die Erklärung, sie sagen, warum etwas so sein muß, wie es ist. Inhaltliche Prinzipien wie Kommunikationsformen bleiben stabil.

Aufklärer und Moderatoren agieren beide, indem sie den reflektierenden Vergleich von Interessen voraussetzen, verfahren dann freilich verschieden.

 

4.2             Notwendige Anforderungen an das Organisationslernen der Gewerkschaften

Aus den veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Kontextbedingungen (siehe Abschnitt 2) und den beschriebenen Strukturmerkmalen des Handelns von Organisationen ergeben sich nach Politikbereichen gegliederte Anforderungen an das Organisationslernen der Gewerkschaften:

Das traditionelle Gewerkschaftsverständnis ist stark mit dem sozialen und industriellen System des Fordismus verknüpft. Es müsste sich auf die Prozesse der Entgrenzung und der De-Zentrierung von Arbeit und Produktion systematisch einstellen, um dem Grundanliegen sozialer Regulierung neu Wirkung zu verschaffen. Insgesamt erfordern Entgrenzung und Dezentralisierung eine umfassende Öffnung der Gewerkschaften

-         zu neuen lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Problemfeldern

-         zu neuen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Gestaltungsinstrumenten

-         insgesamt wohl zu einem neuen Verhältnis von Arbeit und Leben

„Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit prägen das Bild der Erwerbsarbeit der Zukunft, und der ‚Arbeitskraftunternehmer’ erscheint nicht erst am fernen Horizont, wie gerade auch die Erhebungen und Befragungen der IG Metall belegen. Die neue Arbeit wird von den Beschäftigten im Organisationsbereich der IG Metall realistisch und differenziert bewertet. Sie ist eine Arbeit zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung. In ihr geht es unverändert auch um unterschiedliche Interessen. Auf die bezogen gilt es, gemeinsam mit den Beschäftigten Handlungsfähigkeit weiterzuentwickeln. Die aktuell drängenden Themen wie die Arbeitsplatzsicherheit und die eher ‚klassischen’ Themen wie z.B. die Regulierung von Arbeitszeit oder Fragen eines gerechten Einkommens bleiben selbstverständlich wichtig... Aber der Blick ist v.a. auf Neues zu richten: Selbstorganisation der Arbeit, Partizipationspotentiale und –ansprüche,  Regulierung von Weiterbildungsansprüchen zur Ermöglichung des lebenslangen Lernens sind Zukunftsthemen von hoher Bedeutung.

Richtet man den Blick auf die ‚Neue Arbeit’ weniger in einer arbeitssoziologischen Perspektive und mehr unter dem Aspekt der Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften, dann geht es vor allem um neue, aber weitestgehend noch unerschlossene Mitgliederpotentiale in der sogenannten New Economy. Hier wird es im kommenden Jahrzehnt darum gehen, als kompetenter Partner den Dialog mit den Beschäftigten zu entwickeln, politische Dienstleistungen auf sie zuzuschneiden, mit ihnen und ihren gewählten Interessenvertretern gemeinsam Lösungsvorschläge für ihre arbeitsbezogenen Probleme zu entwickeln und Regelungen mit den Unternehmen zu vereinbaren und ggf. durchzusetzen. All dies ist eine erstrangige Frage gewerkschaftlicher Zukunftsfähigkeit“[14].

Hier geht es also darum, in den Gewerkschaften, bzw. wie bei einigen laufenden Pilotprojekten sehr nah mit ihnen verschränkt, soziale Räume zu öffnen, in denen die Beschäftigten der neuen Ökonomie ihre Erfahrungen, Probleme und Interessen artikulieren und die Gewerkschaften darauf bezogene Lösungsangebote mit ihnen zusammen entwickeln können. Für eine ”klassische Industriegewerkschaft” wie die IG Metall bedeutet dies Zumutungen: Sie steht vor der Frage, ob sie vermehrt und dauerhaft Ressourcen für den Dialog mit und die Werbung von Arbeitnehmergruppen einsetzen will, bei denen sie auf rasche organisationspolitische Erfolge kaum rechnen kann. Sie muss sich in diesen Dialogen einer kritischen Außensicht aussetzen, die ihre Kernmitgliedschaft oft als ungerechtfertigt und überzogen ansehen wird, zumal dann, wenn sie von ”Trittbrettfahrern” vorgebracht wird. Sie wird sich, wenn der Dialog fruchtbar sein soll, darauf einlassen müssen, dass ihre bislang noch immer ziemlich einheitliche Verbandskultur buntscheckiger werden wird. Und sie muss es dahin bringen, solche Unterschiedlichkeiten und Vielfalt nicht nur auszuhalten und irgendwie zusammenzubringen, sondern als Reichtum und Potential in einer ebenso buntscheckiger werdenden Arbeitsgesellschaft zu verstehen und zur Geltung zu bringen.

„Dialogbereitschaft setzt voraus, die Erfahrungen der neuen individuellen zivilgesellschaftlichen Subjekte, die die tiefgreifenden Veränderungen der Arbeit hervorbringen und nicht zuletzt durch sie in ihren Wertvorstellungen geprägt werden, ernst zu nehmen, Dialogräume aufzubauen, in denen ihre Erfahrungen verarbeitet werden können, auf sie zugeschnittene Dienstleistungen anzubieten. Gerade in bezug auf diese immer wichtiger werdenden neuen Mitgliederpotentiale gilt, dass es nicht nur nicht darum gehen kann, vermeintlich falsches Bewußtsein als ideologiebehaftet zu kritisieren, sondern dass man sich diesen Beschäftigten als moderne, offene und effiziente Organisation präsentieren muß, die bei konkreten Problemen politische Dienstleistungen anbieten kann und in den wichtigen arbeitspolitischen Debatten der Gesellschaft präsent ist. ... Es geht also nicht um Aufklärung über falsches Bewusstsein. Es geht um Anknüpfungspunkte an die Selbstverständigungsprozesse der Menschen, die unter den tiefgreifend veränderten Bedingungen arbeiten, um die Schaffung neuer Dialogräume und um politische Dienstleistungsangebote, die auf neue Problemlagen und in ihnen artikulierte Bedürfnisse und Interessen zugeschnitten sind.“[15]

Petra Frerichs und Wolfgang Pohl vertreten die Auffassung, dass die Gewerkschaften vor einer Reihe von Dilemmata stehen, wenn sie versuchen, den veränderten Anforderungen gerecht zu werden.[16]  Sie sprechen von folgenden Unvereinbarkeiten:

-         die Berücksichtigung einer Vielfalt unterschiedlicher, koexistierender Interessen der Mitglieder und potentiellen Mitglieder schwächt (gefährdet) die Durchsetzungsfähigkeit der Organisation;

-         die Erweiterung des Vertretungsmandats um die Interessen von Jugendlichen, qualifizierten Angestellten und Frauen gefährdet die Kernkompetenz der Gewerkschaften; ihre Konturen verschwimmen, und es wird unklar, worin ihr Kerngeschäft besteht;

-         wenn die Gewerkschaften die Ansprüche von bislang schwer zu organisierenden Arbeitnehmergruppen vertreten, entsteht die Gefahr, sich von den Interessen der traditionellen Kernmitgliedschaft (männliche Facharbeiter) zu entfernen: Hohe Bindungskraft und Öffnung für Vielfalt sind schwer zu vereinbaren.

-         Die häufig geforderte Dienstleistungsorientierung kann auf Dauer in Konflikt mit der traditionellen Rolle der Gewerkschaft als solidarischer Wertegemeinschaft geraten. Ab wann führt die Kundenorientierung zur Schwächung der Kampfkraft der Organisation?

-         Bei sinkenden Mitgliederzahlen fehlen zunehmend die Ressourcen, durch neue, experimentelle Organisationsformen (Aufbau von Netzwerken, Kampagnen, Kooperation mit neuen Bündnispartnern, z.B. in regionalen Kontexten) Mitglieder in prekären Organisationsbereichen zu gewinnen.

Der Hattinger Kreis hält dieser Interpretation entgegen, dass die zum Teil tatsächlich widersprüchlichen Anforderungen, die sich aus den veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Kontexten für gewerkschaftliches Handeln ergeben, nur zu bewältigen sind, wenn die Organisation sich diesen Widersprüchen öffnet und sie in sich austrägt. Das heißt im einzelnen:

-         Der Begriff der gewerkschaftlichen Solidarität muss auf der Grundlage von Vielfalt (statt wie bisher von wesentlicher Interessengleichheit) neu formuliert werden – sonst verliert er jede Bodenhaftung.

-         Es gibt heute nicht die Alternative von Kerngeschäft oder Zusatzgeschäft der Gewerkschaften. Nur wenn die Gewerkschaften ihre erweiterte Aufgabenstellung akzeptieren und zeitgemäß rekrutieren, werden sie noch zu effektiver Politik in ihrem Kernbereich in der Lage sein.

-         Eine offene oder unterschwellige Höherwertigkeit der traditionellen Mitgliedschaft gegenüber neuen Mitgliedergruppen darf es nicht geben; die Organisation muß sogar systematisch Vorleistungen für potentielle Mitgliedergruppen erbringen; andernfalls kann sich die Gewerkschaft nicht aus der Rekrutierungsfalle befreien.

-         Die neuen potentiellen Mitgliedergruppen benötigen konkrete Solidarität in der Alltagsgestaltung und befragen Gewerkschaften darauf, ob sie ihnen ein Forum für die Verfolgung ihrer Interessen bieten (z.B. ob die Gewerkschaften hinsichtlich personenbezogener Dienstleistungen nicht nur eine beschäftigten-, sondern auch eine bürgerfreundliche (Zeit-) Politik unterstützen).

-         Fazit: Wenn die knappen Mittel nicht vermehrt dafür eingesetzt werden, aus der Rekrutierungsfalle auszubrechen, dann werden sie in Zukunft nur noch knapp. Es gibt keine Alternative zur Öffnung der Gewerkschaften.

Ein entscheidendes Problem ist nach wie vor die Eröffnung von Beteiligungsmöglichkeiten und Dialogräumen. Neben dem Interesse an einem sicheren Arbeitsplatz, einem ausreichenden Einkommen und einer interessanten Arbeit mit erträglichen Arbeitsbelastungen sind Arbeitnehmer vor allem an Möglichkeiten der aktiven Beteiligung an der Gestaltung ihrer Arbeit, an betrieblichen Entscheidungen, am Handeln ihrer Organisation interessiert. Partizipation ist ein elementares Bedürfnis jedes Bürgers – das gilt im Bereich der Arbeit, in Gesellschaft und Politik, in Familien und selbstverständlich in Organisationen aller Art, also auch in Gewerkschaften. Wo dies elementare Partizipationsbedürfnis nicht erfüllt wird, kommt es zu emotionalen Verletzungen, die Fähigkeiten der Menschen können sich nicht entfalten, sie versuchen, solche Situationen zu vermeiden, wenn sie sie nicht ändern können.

Unternehmer haben das inzwischen erkannt. Sie gewähren manche Beteiligungsmöglichkeiten in der Arbeit, doch sind sie instrumentalisiert und führen in der Regel zu Selbstausbeutung. Die demokratischen Formen von Beteiligung, die eine lange Tradition in gewerkschaftlichen Konzepten gerade auch der IG Metall haben (Mitbestimmung am Arbeitsplatz, betriebsnahe Bildungsarbeit der 60er Jahre), haben sich nie durchsetzen können. Darunter hat nicht nur die Betriebspolitik der IG Metall gelitten, sondern auch die Organisation und mit beidem ihre Attraktivität für die alten wie für potentielle neue Mitglieder. In den 70er Jahren bestand die Chance, ausgehend von arbeitspolitischen Konzepten der sozialliberalen Regierung (Matthöfers „Humanisierung der Arbeit“; Brandts „Mehr Demokratie wagen“) Konzepte demokratischer Beteiligung in den Betrieben zumindest zu erproben, wenn nicht durchzusetzen. Die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall, haben damals das Feld der Beteiligung und der Arbeitsgestaltung den Unternehmen überlassen – mit der bekannten Folge, dass heute partielle Selbstbestimmung und Selbstausbeutung in modernen Arbeitsorganisationen Hand in Hand auftreten. Anstatt individuelle und kollektive Beteiligungsrechte in den Betrieben zu sichern, haben es die Gewerkschaften zugelassen, dass die Figur des Arbeitskraftunternehmers entstand.

Ein neuer Anlauf auf den Feldern der betrieblichen Arbeitspolitik und der Arbeitsgestaltung wird der IG Metall nur gelingen, wenn sie – anders als in den 70er Jahren – ihren Mitgliedern Beteiligungsmöglichkeiten zunächst innerhalb ihrer Organisation eröffnet. Nur wenn Frauen, Angestellten und Jugendlichen wie natürlich auch qualifizierten und ungelernten Industriearbeitern die Chance geboten wird, sich an der innerorganisatorischen Willensbildung wirksam zu beteiligen, kann die IG Metall mit neuen Mitgliedergruppen auch Potentiale (Phantasie, Engagement, Kreativität) zur Gestaltung neuer Politikfelder und damit zum Erhalt ihrer Organisations- und Durchsetzungsmacht gewinnen.

Die Internationalisierung der Ökonomie hat den Kontext verändert, in dem nationale Akteure Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnis regeln. Freihandel und regionale Wirtschaftsintegration haben die Märkte internationalisiert, die Bindungen von Unternehmen an nationale Standorte und Märkte zumindest gelockert und den Konkurrenzdruck erhöht. Transnationale Unternehmen haben ihre Operationsräume globalisiert und können den Standortwettbewerb nutzen, um lokale Akteure, vor allem auch Gewerkschaften, und nationale Sozial-, Beschäftigungs- und Tarifpolitik unter Druck zu setzen. Es gewinnt die Frage an Bedeutung, wie Deregulierungsspiralen entgegengesteuert werden kann, die den Wettbewerb mit sinkenden Arbeits- und Sozialstandards entfesseln. Diese Frage ist besonders im Verhältnis zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens von Brisanz, und zwar zum Nachteil der Bevölkerung aller Länder. Offensichtlich stoßen nationale Organisationsformen und Politik in dieser Frage an Grenzen. Es sind neue Formen inter- und transnationaler Kommunikation und Koordinierung ebenso notwendig wie die Schaffung internationaler Institutionen, die nicht wie GATT, WTO, IMF u.a. die Kluft zwischen armen und reichen Ländern verschärfen, sondern sie zu verringern in der Lage sind.

Zugleich enthält die Internationalisierung aber auch die Chance neuer Handlungsräume für die Gewerkschaften. Die Öffnung von Wirtschaftsräumen und die globale Verbreitung neuer I und K-Technologien, nicht zuletzt auch die Ausweitung von Unternehmen mit transnationalen Organisations-, Produktions- und Zuliefernetzwerken sind mit einer Ausweitung und Verdichtung von Informationsflüssen verbunden. Es kommt darauf an, dass sich die Gewerkschaften Zugang zu diesen Informationsströmen verschaffen und sie für die Entwicklung einer Politik globaler Interessenvertretung zu nutzen beginnen. Euro- und Weltbetriebsräte sind dazu ein erster, wenn auch noch bescheidener und auf institutionelle Regelungen beschränkter Anfang.

Die Beschränkung gewerkschaftlicher Politik auf nationale Räume und Fragestellungen kommt noch von einer zweiten Seite unter Druck, und zwar gleichermaßen hinsichtlich ihrer Legitimation wie ihrer Erfolgschancen. Der enge Zusammenhang von sozialen Rechten mit Entwicklungsproblemen macht Solidarität und Kooperation zwischen Beschäftigten und Gewerkschaften aus Gesellschaften unterschiedlicher Entwicklungsniveaus bereits problematisch. Sie wird noch kompliziert durch Anforderungen der Nachhaltigkeit.

Gewerkschaften sind ein organisierter Teil der Bevölkerung des Nordens, deren Lebensstandard auf der bisherigen Wachstumsdynamik der Industrieländer aufbaut und die Nutznießer der Freizügigkeit des Kapital- und Warenverkehrs sind. Gewerkschaften haben sich bisher durch die hohen materiellen Standards legitimiert, die sie durchgesetzt haben und die sie jetzt mit aller Mühe verteidigen. Nachhaltigkeit setzt aber ebenso wie die Entwicklung der Weltgesellschaft andere als innergesellschaftliche, nämlich globale Gerechtigkeitskriterien voraus und verlangt den Menschen in den reichen Industrieländern einschneidende Verzichte auf materiellen Wohlstand ab; auch eine Effizienzrevolution dürfte daran kaum etwas ändern.

Es stellen sich daher höchst komplizierte Fragen, die gravierende Folgen für die tagespolitischen Notwendigkeiten auch der Gewerkschaften haben:

-         welche Formen der Umverteilung von Ressourcen und Rechten zur Nutzung von Ressourcen sind notwendig, um dem Süden Entwicklungschancen einzuräumen sowie Armut und Konflikte zu vermeiden?

-         Wie ist Solidarität national und global denkbar, wenn die ökonomischen und sozialen Entwicklungschancen des Südens von materiellen Verzichten und größeren ökologischen Anstrengungen der reichen Industrieländer abhängig sind?

-         Was können Gewerkschaften tun, um das Bewusstsein ihrer Funktionäre, Mitglieder und weiter der Bürger zu schärfen, dass nationale Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit nicht mehr haltbar sind, dass Entwicklungschancen in der Dritten Welt gefördert, Zuwanderung akzeptiert und Ausländerfeindlichkeit abgebaut werden müssen?

Die praktischen Ansätze zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsanforderungen sind (wenn auch noch nicht ausreichend) höchst interessant. Die RIO-Konferenz hat enorme Bewegung auf vielen Ebenen ausgelöst: als städtische Agenda 21-Initiativen, als Ansätze zu internationalen Regimes (Weltkonferenzen), die wiederum den Anstoß zu vielfältigen, transnational vernetzten Aktivitäten von NGOs gegeben haben: insgesamt ein Gemenge höchst lebendiger, über nationale Grenzen hinweg mehr oder weniger vernetzter Aktivitäten, die optimistisch als Entwicklung von Global Governance interpretiert werden.

Diese Bewegung steht erst am Anfang. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten und Perspektiven angesichts der Widerstände harter Wohlstandsinteressen (die gegenwärtig auch von den Gewerkschaften verteidigt werden) sind noch nicht ausgemacht. Es gehört zur notwendigen Öffnung der Gewerkschaften, dass sie konsequent die Bemühungen zur Kooperation mit dieser Bewegung globaler sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fortsetzen und verstärken.

Resümierend lassen sich daraus folgende Eckpunkte gewerkschaftlicher Veränderungsnotwendigkeiten formulieren:

1.           Die Organisierung von Arbeitswelt- und Lebensweltinteressen im Zusammenhang statt wie bisher exklusiv nur von Arbeitsweltinteressen

2.           Die Internationalisierung gewerkschaftlicher Organisation (von binationaler über europäische bis zu globalisierungskritischer und internationale Standards setzender Gewerkschaftsarbeit)

3.           Die Verstärkung der Erfahrung von Anerkennung, Solidarität und Heimat in der gewerkschaftlichen Organisation durch die Vermittlung von effektivem und respektvollem Rat und Hilfe

4.           Die Eröffnung realer Beteiligungschancen in der gewerkschaftlichen Arbeit für Ehrenamtliche, Mitglieder und (Noch-)Nicht-Mitglieder, die wirklichen Einfluss und damit erst die Anteilnahme (im doppelten Sinne verstanden) an der Gewerkschaftsarbeit voraussetzen, wofür wiederum ein gewisses Maß an Entbürokratisierung und Entformalisierung die Voraussetzung wäre.

4.3      Beispiele für Erfolge und Schwierigkeiten bei der Öffnung der Organisation für neue Fragestellungen und neue Bündnispartner

Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren durchaus Anstrengungen unternommen, sich den neuen Anforderungen zu stellen, sind dabei aber in der Regel auf organisationsinterne Hindernisse gestoßen, deren Überwindung noch große Anstrengungen im Hinblick auf eine lernende (Gewerkschafts-) Organisation erfordert.

Joachim Beerhorst berichtet, wie die IG Metall versucht, den neuen Anforderungen an die Kompetenz der hauptamtlichen Funktionäre durch Weiterbildung nachzukommen. Allerdings zeigte sich, dass einige der angestrebten Profile wie Dialogfähigkeit, Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen, Erhöhung politisch-kommunikativer, sozialer und interkultureller Kompetenz mit dem realen Verhalten der Adressaten nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind; besonders deutlich war die Vernachlässigung der Geschlechterdifferenz in dem vorgestellten Bildungskonzept. Die beschriebenen Kompetenzen werden aber selbst für die Bewältigung des Kerngeschäfts der IG Metall zunehmend wichtiger. Ins Blickfeld gerät damit die Anerkennung einer „Kultur der Differenz“, die als neues Wahrnehmungsmuster auf verschiedenen Feldern (Emanzipation, Zusammenarbeit mit ausländischen Kollegen; Akzeptanz von Migranten; Bewusstsein globaler Dimension von sozialer Gerechtigkeit) eingeübt werden muss.

Ein gutes Beispiel für ein weiter gefasstes Organisationsverständnis ist connex – ursprünglich ein Projekt der IG Medien und der DAG, jetzt von Ver.di weitergeführt -, mit dessen Hilfe Beschäftigte in der Medienwirtschaft auf neue Art angesprochen werden sollen. Als entscheidend erwies sich, dass das Pilotprojekt an vier Medienstandorten losgelöst von den traditionellen Organisationsstrukturen, nur gegenüber einer Steuerungsgruppe verantwortlich, frei agieren konnte. Dabei war das Ziel der Mitgliederwerbung sekundär, es galt vielmehr, Berührungsängste der Adressaten abzubauen, das Image der Organisation in diesem von flexiblen Arbeitszeiten und Entlohnungsformen geprägten Segment des Arbeitsmarktes zu verbessern und die Angesprochenen zu Erfolgserlebnissen zusammenzuführen. Permanente Erreichbarkeit über ein virtuelles Büro, Bündelung von Sachkompetenz und Spezialwissen gehören zu den Erfolgsbedingungen dieser Arbeit. Die gelungene Öffnung nach außen ist aber nur ein erster Schritt. Danach tauchen gravierende Fragen auf: Welches sind die neuen Kernthemen einer sich öffnenden Organisation: Neue Entgeltformen, Arbeitnehmerrechte, Streß und Gesundheit, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben? Wie schnell und wie eng sollen potentielle Mitgliedergruppen an die Organisation gebunden werden? Wie ist das Verhältnis der Öffnung zu individuellen Freiheiten und Interessen einerseits, kollektiven Regelungen andererseits zu gestalten?

Beispiele für die Kooperation mit neuen Bündnispartnern finden sich in drei Regionen, in denen Ortsverwaltungen der IG Metall (Nürnberg und Chemnitz) bzw. der örtliche DGB-Vorsitzende (Dortmund) einen aktiven Part in regionalen Entwicklungsprozessen spielen – in Nürnberg schon seit zwei Jahrzehnten. Allerdings ist die Erweiterung des gewerkschaftlichen Aktionsfeldes in die Region in der Organisation der IG Metall heftig umstritten. Ihre Gegner betonen, dass damit das Kerngeschäft der Gewerkschaft (Betriebs- und Tarifpolitik) vernachlässigt werde. Zumindest das Beispiel Chemnitz zeigt allerdings sehr deutlich, dass dies eine Fehleinschätzung ist. Dort gelingt es der IGM-Ortsverwaltung häufig, Belegschaften in den Betrieben zu mobilisieren und damit nicht nur ihren Einfluß auf regionale Entwicklungsprozesse zu stärken, sondern durch Aktivierung der Beschäftigten auch die Betriebspolitik zu beleben. Die Erschließung der Region als neues Handlungsfeld, die Kooperation mit Akteuren in der Region und die Aktivierung betrieblicher Belegschaften hat eindeutig eine Stärkung der IG Metall in Betrieb und Region zur Folge.

Ver.di hat ein eigenes Politikfeld "Zeitpolitik" eröffnet und dort Projekte wie "Zeiten der Stadt" und "Zeitfragen sind Streitfragen" angesiegelt. Dies beinhaltet die Orientierung von Gewerkschaften auf experimentelle Politik mit situativen Lernprozessen, auf die Kooperation mit neuen gesellschaftlichen Akteuren (wie NROs, Verbrauchervereinigungen etc.), neue Arten der lokalen Konsensfindung und Verbindlichkeitsmuster. Gewiss ist dies eher für die dem öffentlichen Dienst und den Gemeinden nahen Untergliederungen der Ver.di charakteristisch. Aber innerhalb von Ver.di entstehen darüber Transferprozesse und die Ausbreitung von Erfahrungen.

An der Erstellung und Redaktion des Positionspapiers waren beteiligt: Werner Fricke, Heinrich Epskamp, Ulrich Mückenberger, Eberhard Schmidt und Margareta Steinrücke

 


[1] s. dazu ausführlicher: Hattinger Kreis: Wege aus der Rekrutierungsfalle. Zur Zukunftsdebatte der IG Metall, in: GMH 9/2002, 518-524

[2] Helmut Martens „Zehn Thesen zur Zukunfts- und Reformfähigkeit der Gewerkschaften“, Manuskript vom Januar 2002

[3] Klaus Lang „Orientierung geben und sich öffnen“, FR vom 25.5.02

[4] Zygmunt Bauman (Jahrbuch Arbeit und Technik 1999/2001) spricht von flüssigem Kapitalismus im Gegensatz zum früheren „schweren Kapitalismus“, der feste Produktionsanlagen baute, um die Arbeit darin zu binden. Heute ist das Kapital flüchtig, und die Arbeit bleibt, weniger beweglich, zurück.

[5] In den USA müssen Sozialhilfe-Empfänger auch dann Arbeiten annehmen, wenn sie nur mit einer Fahrzeit von 2 Stunden und mehr (Hin- und Rückfahrt: 4 Stunden) verbunden sind. Häufig werden sie in Billigjobs eingesetzt (Bedienung in Restaurants, Pflege von Parks, Haushalts- und Putzhilfen). Für wenig Geld verschaffen sich die Reichen der Gesellschaft damit Dienstleistungen, die sie sonst teuer bezahlen müssten. Privatisierung sozialer Leistungen beginnt auch in Deutschland und anderen Ländern Europas Fuß zu fassen: Teilweise Abbau der solidarisch finanzierten Rentenversicherung durch privat finanzierte, kapitalgedeckte Lebensversicherungen; zunehmende Tendenz zur Eigenbeteiligung an der Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen und schließlich auch auf dem Arbeitsmarkt: Ich AG statt Arbeitslosenunterstützung. Das Konzept des „work to welfare“ wurde von der Clinton-Administration eingeführt; es ist inzwischen auch in Großbritannien gängig, und Deutschland schickt sich nun an zu folgen.

[6]  Siehe hierzu Egon Matzner “On Destructive US Conservatism”, Besprechung von Will Hutton “The World we are in”, London 2002 in “Concepts and Transformation”, Vol. 7(3), 2002 sowie John Shotter „In defense of public space and public goods. Reflection on the social dynamics of American and Social Capitalism“ in: “Concepts and Transformation”, Vol. 8 (1), 2003

[7] Barbara Ehrenreich „Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft“, o.O., o.J. (2001):Kunstmann. Ohne dass die Autorin die Kategorie verwendet, ist ihr Buch voll von Beispielen für die oben erwähnte privatization of social welfare, wie sie das schon von der Clinton-Administration entwickelte „Work to Welfare“-Programm kennzeichnet.

[8] Siehe hierzu Naomi Klein „No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht – ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern“, o.O. 2001: Bertelsmann

[9] Soweit sich der Hattinger Kreis als Gruppe zwar gewerkschaftsnaher, aber doch außerhalb der Gewerkschaften arbeitender Wissenschaftler zu Fragen des Organisationslernens äußert, können dies nur Überlegungen und Anregungen sein.

[10] Der folgende Abschnitt folgt einem Text von Heinrich Epskamp:“Qualifizierungsbedarfe und Kompetenzbildung“ vom Juni 2001

[11] Willke, H., Systemisches Wissensmanagment, Stuttgart 1998, S. 16

[12] Wiesenthal, H., Konventionelles und unkonventionelles Organisationslernen,

Zeitschrift für Soziologie 2 /95

[13] Epskamp,H.,Buchholz, M., Scholz, G., Stappenbeck, J., Lernende Organisation, Opladen 2001

[14] Helmut Martens „Zehn Thesen zur Zukunfts- und Reformfähigkeit der Gewerkschaften“, Manuskript vom Januar 2002, Thesen 5 und 6

[15] Helmut Martens „Zehn Thesen zur Zukunfts- und Reformfähigkeit der Gewerkschaften“, Manuskript vom Januar 2002 Thesen 7 und 8

[16] Siehe Petra Frerichs, Wolfgang Pohl „Zukunft der Gewerkschaften, Teil I: Mitgliederentwicklung, Organisationsstrukturen, Werte und Orientierungen“, Arbeitspapier 44, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung 2001

 

 

 

 

 

2. Entgrenzte Arbeitswelt - Hat die gewerkschaftliche Interessenvertretung noch Zukunft?

(Workshop des Hattinger Kreises, Bremen, Dezember 2001)

 

Einleitung zu den Anhörungsabschriften

(Eberhard Schmidt)

 

Mit steigender Tendenz sind tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt zu beobachten, die sich als „Entgrenzungen“ bislang geregelter Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen begreifen lassen. Interessengegensätze und Konflikte im betrieblichen Alltag und auf der Branchenebene, die vordem in festgelegten Bahnen ausgetragen wurden, entbehren der klaren Zuordnung von Kompetenzen und Adressaten. Alte Interessengegensätze erscheinen vielfach nicht mehr so eindeutig und sind jedenfalls immer weniger fein säuberlich auf das System der Erwerbsarbeit bezogen.

Betriebsräte und Gewerkschaften sehen sich neuen Problemlagen gegenüber, die mit den gewohnten Organisationsroutinen nicht mehr bearbeitbar erscheinen:

 

-         Die durchgängig beobachtbare Flexibilisierung der Arbeitszeit schafft eine Vielfalt nebeneinander existierender Arbeitszeitmodelle, die teilweise individuelle Spielräume erweitern, aber auch mit erhöhten Belastungen und Arbeitsverdichtungen einhergehen. Ein tariflich nur schwer regulierbares patchwork mit der Tendenz zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik ist entstanden.

 

-         In bestimmten Sektoren (etwa der new economy) brechen den Gewerkschaften die Verhandlungspartner auf der Gegenseite weg oder sind nicht mehr genau identifizierbar. Neuartige Partizipationsangebote an die ArbeitnehmerInnen korrespondieren mit antigewerkschaftlicher Orientierung.

 

-         Der Typ des neuen „Arbeitskraftunternehmers“ lässt sich über tarifvertragliche Regelungen kaum mehr einfangen, obwohl die Verhaltensanforderungen an ihn danach verlangen.

 

-         Der Betrieb als Bezugspunkt gewerkschaftlicher Organisation kommt in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes durch Ausgliederungen, Dezentralisierung oder Formen von Scheinselbständigkeiten gänzlich abhanden.

 

-         Die Entgrenzung einzelner Arbeitsmärkte, die einer globalen Arbeitskräftekonkurrenz ausgesetzt werden, unterläuft die gewerkschaftlichen Bemühungen um tarifvertraglichen Schutz und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen.

 

-         An die Stelle traditioneller Bindungsbereitschaft an die Gewerkschaft über die  Wahrnehmung gemeinsamer Arbeitnehmerinteressen setzen sich unternehmensbezogene Identitätstiftungen (Unternehmenskulturen), die die Distanz zur Gewerkschaft auf ihre Fahnen schreiben.

 

Damit geraten Betriebsräte und Gewerkschaften in eine Reihe von Dilemmata:

 

1.Sie sollen sich auf eine Vielfalt unterschiedlicher, koexistierender Interessen der Mitglieder und potentieller Mitglieder einstellen, aber gleichzeitig durchsetzungsfähig bleiben. Wie weit bedeutet das die Aufgabe des traditionellen Modells, vereinheitlichter Interessenvertretung mit zentraler Verhandlungsführung? Tritt an deren Stelle die berufsständische Verselbstständigung einzelner Mitgliedergruppen(à la cockpit)?

 

2. Sie müssen ihren Arbeits- und Interessenbegriff erweitern und ein neues Selbstverständnis (Leitbild) entwickeln, also ihr Vertretungsmandat neu definieren, um bei jungen, bei besser qualifizierten, vor allem auch bei bisher gewerkschaftsabstinenten Arbeitnehmerinnen „anzukommen“. Gleichzeitig müssen sie aber auch ihre Kernkompetenzen stärken, um angesichts der tarif- und betriebspolitischen Herausforderungen überhaupt vertretungsfähig zu bleiben. Wofür bleiben Gewerkschaften zuständig, wo ensteht die neue Kontur der Gewerkschaften? Welche Allianzen können eingegangen werden, um das gewerkschaftliche Gewicht in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken? Sind die Gewerkschaften mit der neuen Aufgabenzuschreibung überfordert oder ist das Kerngeschäft selbst nur noch zu bewältigen, wenn neue Interessen aufgegriffen werden?

 

3. Sie müssen die Ansprüche und Interessen von bislang schwer zu organisierenden Arbeitnehmergruppen anerkennen, aber dabei droht besonders für die Industriegewerkschaften die Gefahr, sich zu weit von den Interessen und Geflogenheiten der Kernmitgliedschaft zu entfernen, die selber, gemessen an der sich verändernden Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft insgesamt, anteilsmäßig stetig abnimmt (Problem der Überalterung der Mitgliedschaft und der Konzentration auf die alten, männlichen Facharbeiter“eliten“). Hohe Bindungskraft und Öffnung für Vielfalt sind schwer gemeinsam zu optimieren. Wo liegt die zumutbare Balance?

 

4. Sie müssen mehr Dienstleistungen für die Mitglieder anbieten, aber diese Dienstleistungsorientierung kann auf Dauer in Konflikt mit der traditionellen Rolle der Gewerkschaften als solidarischer Wertegemeinschaft geraten. Ab wann führt die Kundenorientierung zur Schwächung der Kampfkraft der Organisation? Kann die ideologische, lebenslange Bindung durch neue Formen von Beteiligung ersetzt oder ergänzt werden?

 

5. Sie müssen mehr Mittel einsetzen, um durch experimentelle und langfristig angelegte Organisierungsversuche (Aufbau von Netzwerken, Kampagnen... ) Mitglieder in den prekären Organisationsbereichen zu gewinnen. Aber bei sinkenden Mitgliederzahlen fehlen gerade dafür die Ressourcen. Wie lange lässt sich der notwendig erhöhte Mitteleinsatz durchhalten ohne die kurzfristige Kompensation in Gestalt von sichtbarem Mitgliederzuwachs?

 

Die Gewerkschaften stehen also vor der Notwendigkeit tiefgehender und komplexer Lernprozesse, wollen sie weitere Mitgliederverluste und den damit einhergehenden Bedeutungsschwund vermeiden. Dabei geht es im wesentlichen um die Entwicklung neuer Leitbilder, die Erprobung neuer, dezentraler Organisations- und Kooperationsformen, die Ausbildung von kommunikativen und sozialen Kompetenzen, die Weiterqualifizierung im Hinblick auf rasch wechselnde Anforderungen und die Bereitschaft zur Öffnung für andere Organisationskulturen

 

Die folgenden Texte sind Protokolle einer Anhörung von Experten aus der betrieblichen und gewerkschaftlichen Praxis, die Erfahrungen mit den beschriebenen Problemlagen mitbringen, und so einen Beitrag zur Klärung der oben beschriebenen Fragestellungen leisten können.

Sie beschäftigen sich mit drei Themenkomplexen:

  1. Erfahrungen mit neuen Zeitstrukturen im Betrieb am Beispiel der Vertrauensarbeitszeit
  2. Interessenvertretung unter Bedingungen entgrenzter Arbeitsverhältnisse am Beispiel von Call-centern
  3. Zeitpolitik, Gender mainstreaming und Gewerkschaften

 

Die Anhörungen fanden im Rahmen einer Veranstaltung des Hattinger Kreis, einer Gruppe von Vertrauensdozentinnen und –dozenten der Hans Böckler Stiftung des DGB, in Kooperation mit dem DGB Bremen statt.