Institut für Politikwissenschaft

Ulrich Mückenberger

Auswege aus der Rekrutierungsfalle?

Einleitungsvortrag Hattinger Forum 19. September 2003 "Organisationslernen in Gewerkschaften - sind die Gewerkschaften zukunftsfähig?"

 

Reform an Haupt und Gliedern!

Wer hätte das gedacht, dass die Frage des Organisationslernens von Gewerkschaften im Jahre 2003 eine solche Aktualität hat! Wir sind von vielen für diese Themenfindung gelobt worden - so als hätten wir seherisch die Ereignisse dieses Jahres im Blick gehabt. Mitnichten: mich hat die fatale Entwicklung im Metallbereich aufgewühlt und geschockt. Und dennoch stellt sie genau die Spitze des Eisbergs dessen dar, was wir seit Jahren beobachten, diagnostizieren und wozu wir Alternativen suchen: den voranschreitenden Realitätsverlust und die Marginalisierung der Gewerkschaften in Deutschland.

In seinem Arbeitszyklus der letzten fünf Jahre hat der Hattinger Kreis mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung einen öffentlichen Reflexionsprozess mit betrieblichen und gewerkschaftlichen Kolleg/-innen vollzogen. Wir haben zwei große Entwicklungstendenzen aufgearbeitet, die das tradierte gewerkschaftliche "Kerngeschäft" zunehmend im Mark treffen.

-         Zunehmend findet eine "Entgrenzung" im Erwerbsbereich statt, die die Grenze von Arbeitszeit und "Freizeit" in Frage stellt, tradierte Betriebsgrenzen auflöst, unübersichtliche und individualisierte Beschäftigtenrollen herbeiführt - womit den Gewerkschaften sozusagen der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

-         Und eine Entgrenzung findet in Gestalt der "Internationalisierung" von Kapital- und Beschäftigungsbeziehungen statt - worauf die Gewerkschaften weder organisations- noch allgemeinpolitisch eingerichtet sind.

-         Wir sind anhand dieser Analysen auf die "Rekrutierungsfalle" gestoßen: die Gewerkschaften repräsentieren im wesentlichen die Beschäftigtenstruktur einer vergangenen Industriegesellschaft, verlieren aber zunehmend an Bedeutung in der Beschäftigtenstruktur der heraufkommenden Wissensgesellschaft.

-         Von Anfang an hatten wir vor, diesen Arbeitszyklus auf eine Reflexion des gewerkschaftlichen Organisationsverständnisses hinauslaufen zu lassen: nämlich auf die Frage, wie die Gewerkschaften sich gegenüber diesen unverarbeiteten Entwicklungen offen und lernfähig, damit auch zukunftsfähig machen können. Das ist das Thema unseres diesjährigen Forums.

Die Gewerkschaftstage von Ver.di und IG Metall in diesem Herbst stehen im Zeichen dessen, was die IG Metall dieses Jahr durchgeschüttelt hat: des Streikdebakels, das sie in Sachsen erlebt hat, des Risses, der daraufhin durch die Organisation gegangen ist (oder vielleicht auch: der dadurch offenbar geworden ist) und der jetzt durch die Doppelspitze Peters/Huber äußerlich gekittet worden ist. Dergleichen hat Ver.di nicht zu verzeichnen. Sie beschäftigt sich zwar auch überwiegend mit sich selbst - und den Vereinigungsfolgen. Aber die internen Strömungen haben nicht ein so klare Kontur wie in der IG Metall. Ver.di könnte sich sogar darüber freuen, dass sie in der Konkurrenz mit der anderen Großorganisation besser dasteht, da bei ihr der Mitgliederrückgang derzeit schwächer ausfällt als bei der IG Metall.

Aber beide stehen - wie der DGB überhaupt - im Prinzip vor denselben Problemen. Sie haben mit einer zurückgehenden - und dazu noch überalternden - Mitgliedschaft zu tun. Weder das programmatische noch das organisationsreformerische Konzept für Zukunftsfähigkeit ist da. Und sie eiern in der Beziehung zur sozialdemokratischen Modernisierungs-Politik zwischen Totalopposition und Sich-Einrichten, weil ja bekanntermaßer die konservative Alternative nur noch derber wäre.

Dahinter verbirgt sich ein Entwicklungsstau, der sich bei beiden in ihren letzten großen Aktionen gezeigt hat. Ungeachtet der Streitigkeiten zwischen Zwickel und Peters hat die Tarifauseinandersetzungen die Unfähigkeit der IG Metall bewiesen wahrzunehmen, dass sich ihr Umfeld radikal gewandelt hat. Das Beharren auf linearer Arbeitszeitverkürzung als "dem" Ziel gewerkschaftlicher Tarifpolitik hat dazu geführt, dass die IG Metall auf dem Feld, das ihr als "Kerngeschäft" gilt - der auf Arbeitszeit und Entgelt gerichteten Tarifpolitik - regelrecht eingebrochen ist, ohne jeden Hauch eines Erfolges oder Kompromisses (wenn ich recht sehe auch ohne jede Nicht-Maßregelungsabrede). Schon jetzt freilich gewinnt die Lesart wieder an Boden, als habe das mit Aufs und Abs von Kräfteverhältnissen, mit ungünstigen Zeitpunkten, falschen Taktiken, Personen und Standpunkten zu tun. Nein: es hat damit zu tun, dass diese große kampferfahrene Organisation die Orientierung verloren hat.

Bei Ver.di ist in der Tarifauseinandersetzung des letzten Jahrs zwar keine Niederlage eingetreten - eher ein Erfolg. Aber wenn man hinschaut, wofür dieser Erfolg erzielt wurde, trifft man gleichfalls auf auf eine Orientierungsschwäche wie bei der IG Metall. Konventioneller hätte ein Tarifabschluss gar nicht aussehen können. Eine lineare Lohn- und Gehaltserhöhung als "das" Ziel und Ergebnis einer die Mitgliedschaft und Öffentlichkeit beschäftigenden herausragenden Aktion ist in dieser Zeit geradezu lachhaft. Keine nennenswerte soziale Differenzierung, kein Blick auf die Folgen in öffentlichen Einrichtungen fanden da statt - von qualitativen Veränderungen, arbeitsplatzsichernden Gestaltungen, Umwandlung des BAT mit Blick auf veränderte öffentliche Funktionen, Forderungen der Geschlechtergleichheit, Alternativen der Privatisierung ganz zu schweigen. Entsprechend leblos und betonhaft sind die öffentlichen Argumentationen der Organisationsvertreter gewesen, was in der Öffentlichkeit das Bild von den Gewerkschaften als (wirklich noch notwendigem?) Übel verstärkt hat.

Geradezu beängstigend war der monatelange Patt-Zustand, in dem die IG Metall steckte - ein paar Wochen lang schien, als wolle sie ihn ruhig bis zum ordentlichen Gewerkschaftstag im Oktober aussitzen. Wenn man den Verlautbarungen glauben darf, gibt es zwei gleichstarke Blöcke im Vorstand, die - offenbar unberührt von der totalen Streikniederlage, der internen Fraktionsbildungen und des an die Nieren gehenden öffentlich gemachten Zerwürfnisses zwischen beiden Vorsitzenden - ihre Positionen aufrechterhalten und (als rundum erwartet wurde, es würde ein "Ruck" durch die Organisation gehen) einfach ausgeharrt haben. Die Horrorvision der Zukunft der Gewerkschaften wäre, wenn in Zukunft das Verhältnis zwischen traditionellen und modernen Flügeln - und entsprechenden Arbeitnehmer/-innen-Gruppen - innerhalb der Gewerkschaften immer in solche Pattsituationen und damit zu Politik- und Handlungsverzicht führt. Dafür gibt es heute durchaus schon Anzeichen.

Diese Horrosituation dürfte nur zu vermeiden sein, wenn die Gewerkschaften in ihren zentralen Handlungsfeldern die Herausforderung einer wirklichen Modernisierung begreifen und aufnehmen: Das heißt, die wandelnde Umwelt - und damit potenzielle Mitgliedschaft - zur Kenntnis nehmen; eine der Differenzierungen entsprechende differenzierte Programmatik und Praxis betreiben; Kultur und Erscheinungsbild der Organisation radikal umkrempeln; und ein gewandeltes Verhältnis zu der Gesellschaftspolitik einnehmen.

Das Problem der sich wandelnden Umwelt und der daraus folgenden Umschichtung potenzieller Mitgliedschaft haben wir ausführlich unter dem Aspekt der "Rekrutierungsfalle" erörtert (vgl. GMH 2002). Es lässt die vereinfacht so ausdrücken: Die Gewerkschaften repräsentieren eine veraltete Mitgliederstruktur; sie machen folglich auch eine Politik, die eher der industriegesellschaftlichen als der wissensgesellschaftlichen Umwelt und Arbeitnehmerschaft entspricht; deshalb erhalten sie auch bei jungen und "modernern" Arbeitnehmergruppen keinen Anklang und veralten weiter.

Der Mitgliederrückgang allgemein ist bekannt. Er hängt nicht in erster Linie mit Austritten, sondern mit Nicht-Eintritten zusammen und mit dem, was man den "Zusammensetzungs-Effekt" ("composition effect") nennt: Vor Allem Frauen und Hochqualifizierte - und natürlich Jüngere -, die in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft immer bedeutender werden, sind in den Gewerkschaften weit unterrepräsentiert. Der Rückgang wird in seiner Dramatik weitaus größer, als die verbreiteten Zahlen erwarten lassen, wenn man zum Bezugspunkt die Nettogewerkschaftsdichte (Beck/Fitzenberger ZEW dp 03-42) nimmt - also das Verhältnis erwerbstätiger organisierter Arbeitnehmer/-innen zu den nichtorganisierten in demselben Tätigkeitsbereich. Dann wird der Altersfaktor sichtbar. Die IG Metall z. B. hat 580000 Rentner als Mitglieder (22 - 23%), bei den Trägern der Zukunft ist sie eher unterrepräsentiert - der Anteil von Mitgliedern unter 25 sinkt seit Jahren - von ca. 14 auf ca. 7%. Bei den Ver.di-Mitgliedern sind 16,7% über 60 und nur 5% unter 28 Jahre alt. Und die Rekrutierungsfalle wird weiter sichtbar, wenn man - über bloße Mitgliedschaftsraten hinaus - die haupt- und ehrenamtlichen Mandatsträgerschaften betrachtet. Dann vertieft sich das Bild von Frauen, Hochqualifizierte und Junge gering repräsentieren Organisationen.

Will man den Teufelskreis durchbrechen, dann muss man gerade für diese Gruppierungen attraktive Politik und Programmatik ins Auge fassen. Die IG Metall erreicht sie nicht - und bleibt stattdessen ihrer traditionellen industriellen Klientel und ihrem traditionellen "Kerngeschäft" verhaftet. Öffentlich wird sie denn auch als eine Lobby unter Vielen wahrgenommen. Und wenn sie – wie in Sachsen - einen großen gesellschaftlichen Konflikt heraufbeschwört, wird sie dafür öffentlich gerichtet - so wie die Benzinpreis-Lobby für ungerechtfertigte Preisabsprachen, die Politiker-Lobby für Diätenerhöhungen in Selbstbedienung, die Bahn-Lobby für unsinnige Fahrgastgängelung abgestraft werden.

Die Gewerkschaften müssen sich - um weiteren Niedergang und Realitätsverlust abzuwenden - an Haupt und Gliedern modernisieren. Sie müssen sich weiter öffnen zu Hochqualifizierten, Frauen und Jugendlichen und deren Belangen – und zwar im Vorgriff auf deren Mitgliedschaft (es soll sie ja gerade zu einer Mitarbeit motivieren) Sie müssen Sensoren entwickeln für Öffentlichkeit und ihr Erscheinungsbild in dieser Öffentlichkeit. Sie müssen – das hat der Zukunftsreport der IG Metall von 2001 durchaus deutlich gemacht, aber was ist daraus gefolgt? – zukunftsfähig und damit realitätstüchtig werden.

Die Rezepte, die heute erörtert werden - Personalisierung, Abstrafung von Sündenböcken -, helfen in dieser Situation wenig. Gewiss: für den Modernisierungsprozess einer Großorganisation ist bedeutsam, wer diese Organisation leitet. Aber bei der Reform an Haupt und Gliedern geht es um mehr: um einen gesamtorganisatorische Lernprozess, ein neues Politikmodell, das auf Öffnung der Organisation und auf Beteiligung von neuen Gruppen von Beschäftigten setzt. Der bloße Austausch des Führungspersonals ist da kein Erfolgsrezept.

Zu kurz greift erst recht das Rezept, die IG Metall nun schärfer an die Kandare zu nehmen. Unüberlegt sind die Vorschläge, die Kampfbefugnis der Gewerkschaften zu beschränken, das "Tarifkartell“ aufzubrechen und einzelnen Betrieben und Belegschaften mehr Verhandlungsmacht zu verleihen. Regierung und Unternehmerschaft stimmen denn auch in solche Rufe – trotz, oder auch gerade wegen, der von der IG Metall erlittenen Schlappe – nicht ein. Nur Ahnungslose oder Heißsporne triumphieren heute und setzen auf den Niedergang der Gewerkschaften überhaupt (wie auch übrigens der Arbeitgeberverbände).

Die Klügeren wissen – und bangen! – um das ordnungspolitische System industrieller Beziehungen, das Deutschland bei der Modernisierung seiner Ökonomie hilft und das starke, allerdings auch diskursfähige und lernbereite, Verbände voraussetzt. Die wirkliche Frage lautet heute: Wie können Großorganisationen wie IG Metall und Ver.di Lern- und Modernisierungsprozesse anstoßen und durchführen, die sie aus der gesellschaftlichen Isolation herausführen und Debakel wie das im Metallbereich erlebte vermeiden helfen?

Eine restriktive Gesetzgebung - das wissen wir aus der Geschichte und der Organisationssoziologie - fördert einen solchen organisatorischen Neuerungsprozess nicht, sie behindert ihn geradezu. Wenn eine Organisation sich äußerer Intervention und Maßregelung ausgesetzt sieht, schnürt sie sich in ihrem Inneren, im eigenen "Lager", ein. Dann werden Experimente der Vielgestaltigkeit und des Wandels (derer die IG Metall dringend bedarf) und deren Befürworter marginalisiert. Dann gewinnen die, die die Einheit des Lagers fordern, die die „Kerntruppen“ um sich scharen und sich aufs „Kerngeschäft“ konzentrieren wollen, unvermeidlich die Oberhand.

Nein: notwendig ist gerade jetzt, den Gewerkschaften Autonomie einzuräumen und aufrechtzuerhalten – Autonomie zur Selbstbefragung, zum praktischen Experiment und zum offenen Diskurs nach Innen und Außen. Dies allein ermutigt einen selbsterzeugten Wandel, der zu einer gesellschaftlich verantwortlichen Modernisierung der Organisationen führen kann.

 

Welche Reformrichtungen?

Was wäre nun die Reform an Haupt und Gliedern? Ich äußere dazu einige Andeutungen, die aus den über die letzten Jahre sich erstreckenden Recherchen und Anhörungen des Hattinger Kreises zum Thema der Organisationsreform resultieren. Einen Vorbehalt dazu teile ich später mit. Nun, die Reform an Haupt und Gliedern muss die Programmatik, das öffentliche Erscheinungsbild wie auch die gewerkschaftliche Organisationsstruktur erfassen:

Die Programmatik: Wollen die Gewerkschaften von "neuen" Beschäftigtengruppen ernst genommen und akzeptiert werden, müssen sie deren Anliegen kennen und vertreten - dabei müssen sie teilweise "in Vorleistung treten", d. h. die Anliegen dieser Gruppen vertreten, selbst wenn diese nicht Mitglieder der Gewerkschaft sind (denn so allein können sie es in Zukunft werden). D. h. sie müssen die Wünsche Hochqualifizierter nach schnell verfügbarer Beratungskompetenz, nach differenzierten Arbeitszeiten, Zeitkonten sowie Sabbat- und Qualifizierungszeiten entsprechen und diese in regulierungsfähige Form bringen - sie darf nicht an Konzepten linearer Arbeitszeitverkürzung und linearer Entgelterhöhung hängen bleiben. Sie müssen die Anliegen von Frauen, als kompetent und gleichberechtigt anerkannt zu werden, berufliche und außerberufliche Zeiten miteinander in Einklang zu bringen ("work-life-balance" für Frauen wie für Männer), eine sozialverträgliche Ausgestaltung von Teilzeitarbeit zu schaffen, aktiv und fantasievoll vertreten. Und sie müssen für junge Menschen nicht nur in Auftreten und Umgangsformen attraktiver werden, sondern auch deren spezifischen Belange - wie lebenslanges Lernen, Medienkompetenz, Selbstbestimmungsbedürfnissen - gestalterisch Rechnung tragen.

Alle diese Anforderungen werden sich auch in einem veränderten Dienstleistungsverständnis der Gewerkschaften niederschlagen. Sie werden weniger Ideologieproduzenten und Urheber von Top-down-Konzepten sein (was zumindest in dem Metaller-Streik der Fall war), sondern ihre Ressourcen und „man"/women“-Power auf intelligente und situationsangemessene Dienstleistungen gegenüber der (aktuellen und potenziellen) Mitgliedschaft verwenden (so wie es etwa in dem Projekt connexx-AV der Fall ist). Das hat nichts mit einer ADAC-isierung der Gewerkschaften zu tun. Es ist einfach der Nachweis, dass die Gewerkschaften für die Mitglieder da sind – und nicht umgekehrt.

Das öffentliche Erscheinungsbild: Die Gewerkschaften dürften wohl nicht länger dazu beitragen, als scheuklappentragender Koloss wahrgenommen werden, als der z. B. die IG Metall in Sachsen unterging. Sie sollten in der Gesellschaft als interessierter und interessanter Diskurspartner auftreten, neue Entwicklungen und Probleme entdecken und aufgreifen - deren es in den "modernen" Industrie- und Dienstleistungssektoren durchaus gibt. Dazu bedarf es vielfältiger Kompetenzen: die Sprache der neuen Beschäftigtengruppen will gelernt sein, um mit ihnen kommunizieren zu können. Ebenso die Offenheit für vielfältige Denkformen und Problemlagen, die Bereitschaft, Zielkonflikte und -dilemmata anzunehmen und darüber Diskurse mit offenem Ausgang zu ertragen. Auch ein kritischer Blick auf die Funktionärs- und Abkürzungskultur, auf die Architektur der Gewerkschaftshäuser, auf die Symbolik ihrer Medienpräsenz und die Servicezeiten für Ratsuchende verlohnte sich. Das ist nämlich, was Organisationsungewohnte als Allererstes (und oft als Allerletztes) von Gewerkschaften wahrnehmen.

Solch radikaler Wandel implizierte unweigerlich ein verändertes Organisationsverständnis. Der demokratische Zentralismus - mit dem die Industriegewerkschaften groß geworden sind - hat endgültig ausgedient. Brauchte man dafür Beweise, so lieferte sie der gescheiterte Metallstreiks, dessen innere Einheit wie auch äußere Akzeptanz zunehmend zerbröselte. Moderne Organisationsstruktur und organisatorische Willensbildung müssen das Ohr an den Menschen haben - sie müssen Sensoren für die Vielfalt von Anliegen und Stimmungen aufweisen. Das heißt aber zwangsläufig: die neue Organisationsstruktur muss dezentral und partizipativ angelegt sein. Sie muss lokale Initiativen durch Kompetenz und Ressourcen stützen, ihre Erfahrungen aufnehmen, in andere Bereiche der Organisation vermitteln und damit die Einheit der Organisation stets neu herzustellen versuchen.

Das neue Verhältnis zwischen Haupt und Gliedern wäre nicht Anderes als - die "lernende Organisation". Ihr Lebenselexier sind die Erfahrungen und Vorhaben, Ängste und Hoffnungen der Menschen in Betrieben und Regionen. Die Organisation leistet diesen Menschen Dienste: sie unterstützt und beobachtet, moderiert und vernetzt und ist auf diese Weise bei der sozialen Gestaltung und der Entwicklung der dafür erforderlichen Solidarität behilflich.

Auch das Verhältnis zur Politik wird anders werden müssen, als die letzten Monaten es zeigten. An die Stelle des Rumeierns zwischen Totalopposition und Sich-Einrichten, das im praktischen Ergebnis zur politischen Paralyse der Gewerkschaften führt, muss ein differenziertes und genaues Argumentieren treten. Dass in Deutschland und Europa radikale und auch in erreichte "Sicherheiten" einschneidende Reformen der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmärkte, der sozialen Sicherungssysteme, des Steuersystems usw. notwendig sind, kann nur bestreiten, wer die alten Scheuklappen aufbehalten will. Mit pauschalen Etikettierungen - wie "neoliberales Programm" - und realitätsblinden Parolen - "Geld ist genug da!" - sind die derzeitigen sozialdemokratischen Programme nicht zu bewältigen. Man muss da schon konkret werden und fragen: wo sind soziale Einschnitt zu verkraften und wo nicht. Und die Gewerkschaften könnten das mit ihren eigenen Bemühungen um Auswege aus der Rekrutierungsfalle verbinden - indem sie spezifische Wirkungen und spezifische Schutzbedarfe für Gruppen artikulieren, die für Gewerkschaften der Zukunft bedeutsam sind. Ich fand als Beispiel dafür nützlich, was Vera Morgenstern kürzlich zu den absehbaren Wirkungen der Arbeitsmarktreformen auf Frauen schrieb.

 

Zu diesem Hattinger Forum: Sind Gewerkschaften lernfähig?

Die Frage, die uns natürlich hier Alle bewegt, ist: ob die Gewerkschaften einen solchen grundsätzlichen Neu-Orientierungsprozess hinbekommen werden? Wir - der Hattinger Kreis - haben ungeachtet der Vielfalt der in diesem Kreis vertretenen Positionen dazu eine Grundposition entwickelt, auf die auch das Thema dieses Forums zurückzuführen ist. Bei der Reform an Haupt und Gliedern geht es nicht einfach um ein neues Programm, ein neues Erscheinungsbild, ein neues Verhältnis zur Politik - sondern Voraussetzung für all das ist ein neues Organisationsverständnis, das ich oben bereits mit "lernender Organisation" bezeichnet habe. Denn wenn es um die Schutz- und Politikbedarfe neuer vielfältiger Personengruppen, um die Öffnung der Gewerkschaften zu neuen lokalen Kulturen und Initiativen usw. geht - dann kann dies nicht ohne eine neues Organisationsverständnis gehen. Ein neuen Verhältnis von Gewerkschaften zu ihren Mitgliedern und Sympathisanten - und ihren potenziellen Mitgliedern und Sympathisanten - ist notwendig. Der "geschlossene" zentralistische - je nachdem fordistische oder leninistische - Organisationstyp hat ausgedient, mit dem die Industriegewerkschaften groß geworden sind. An seine Stelle muss ein neuer "durchlässiger", auf Dezentralität und Beteiligung angelegter Organisationstyp treten. Anders ist der Fortschritt zur lernenden Organisation nicht vorstellbar.

Ich will das kurz erläutern, wobei nach mir Berufenere Begründungen und Details geben werden. Die Lernfähigkeit von Organisationen hängt mit ihrem Verhältnis zwischen Innen - und Außenorientierung zusammen. Wenn eine Organisation sich stark oder gar ausschließlich mit dem "Innen" - den eigenen Mitgliedern, den eigenen Wertvorstellungen und Programmen, den internen Macht- und Einflussstellungen - beschäftigt, bekommt sie Wandlungen im "Außen" günstigenfalls gar nicht, ungünstigstenfalls durch Niederlagen und Niedergang mit. Wir sehen heute die gewerkschaftlichen Großorganisationen sehr mit sich selbst beschäftigt. Bei der IG Metall hat das bis zum Stillstand der Außenbeziehungen geführt. Aber auch bei Ver.di sehen wir die internen Auseinandersetzungen um die Matrixorganisation, die sparten- und spartenübergreifenden Einflussphären und Politikformulierungen als streckenweise völlig dominant. Und wir sehen, dass dieser Innenorientierung sozusagen die äußere Realität - und die Mitglieder - weglaufen.

Worin aber kann eine Orientierung auf das "Außen" bestehen? Klar ist wohl, dass die Organisation sie nicht aus sich heraus - aus einem zentralistischen Apparat - hervorbringen kann. Sie kann sie wohl auch kaum aus den Medien oder der Wissenschaft gewinnen. Sie kann sie nur durch "Öffnung" ihrer Organisationsstrukturen erreichen. Sie muss eine Organisation werden, die "zuhören" kann, die "Sensoren" entwickelt hat für neue Erfahrungen und Denkweisen und die diese neuen Informationen - auch wenn sie ihrem tradierten Selbstverständnis zuwiderlaufen - "verarbeiten", d. h. in die eigene Organisationspraxis produktiv integrieren kann. Damit ist unvereinbar, dass Gewerkschaften sich als vereinheitlichende Ideologieproduzenten, überhaupt als Verfechter der Einheit gegenüber der sozialen Vielfalt geltend machen. Eher ist angesagt, die gewerkschaftliche Organisation von der sozialen Vielfalt her neu zu denken. Bezirkliche und zentrale Strukturen hätten dann eher die Rolle von Moderatoren und Netzwerkknoten, die betriebliche, lokale und regionale Initiativen und Erfahrungen aufgreifen und miteinander - aber auch mit solchen in anderen Ländern - in Beziehung setzen, die damit Konflikte und Widersprüche artikulierbar machen und daraus den Solidarzusammenhang neu entfalten helfen.

Dass es solche betriebliche, lokale und regionale Initiativen und Erfahrungen in großer Zahl gibt, haben wir in unseren Recherchen und Anhörungen der letzten Jahre eindrucksvoll erfahren. Und wir haben viele von ihnen zu diesem Forum eingeladen. Die große Frage ist nur: wird die gewerkschaftliche Organisation zu ihnen ein durch Moderation und Vernetzung die Organisation neu herstellendes Verhältnis gewinnen und gewinnen können?

Wir haben zu diesem Forum Aktive aus innovativen Projekten im gewerkschaftlichen Umfeld eingeladen. Innovativ meint, dass der Bezug auf Regionalgestaltung, auf neue Beschäftigtengruppen, neue Zeitmodelle oder Kooperationspartner etc. stattgefunden hat. Wir gehen mit ihnen den Fragen nach:

-         Wie müssen gewerkschaftliche Strukturen beschaffen sein, um gegenüber solchen Innovationen "lernfähig" zu sein?

-         Hat die gewerkschaftliche Organisation bei dem innovativen Projekt geholfen?Hat die Organisation bei dem Projekt geschadet?

-         Sind Gewerkschaften als Organisationen überhaupt in der Lage, aus Innovationen dieser Art zu lernen?

-         Wenn es so etwas wie eine "Lernresistenz" von Gewerkschaften gibt, worin liegt die: In den Menschen, in den Gebäuden, in den Ideologien, in der Sprache, in den Organisationsstrukturen?

-         Löst der gegenwärtige Rückschritt der Gewerkschaften einen "Leidensdruck zur Selbstveränderung" aus? - wenn nein, warum nicht?

-         Sind im Zusammenhang mit neuen Beschäftigtengruppen (Frauen, Jugendlichen, Hochqualifizierten) Selbstveränderungsprozesse der Gewerkschaften beobachtet worden, an denen anzuknüpfen wäre?

-         Wie müsste eine Organisation beschaffen sein, die die veränderten Erwartungen Beschäftigter und Interessierter aufnimmt und unterstützt?

-         Wie würde sie Ressourcen und Verantwortlichkeiten organisieren?

-         Wenn nur eine dezentralisierte, projektförmig arbeitende Organisation dazu in der Lage sein sollte, wie kann sie "Einheit" herstellen - oder soll sie das überhaupt nicht?

-         Was wären Vorschläge für konkrete Schritte zum gewerkschaftlichen Organisationslernen?

Lernen setzt Lernbereitschaft, diese wiederum die Bereitschaft zur In-Frage-Stellung des Gewohnten voraus. Ist diese Bereitschaft bei uns vorhanden? Helmut Martens berichtet dazu aus vergangenen Reformbemühungen der Gewerkschaften. Manchmal habe ich das Gefühl, dass in den Gewerkschaften statt "Leidensdruck" eher so etwas wie Dickhäutigkeit dominiert. Man sieht den Mitgliederverlust - aber sagt: wir sind immer noch viele, und anderen Großorganisationen geht es auch nicht besser -. Man erlebt die Niederlagen - und sagt: das waren Stöße aus dem eigenen Lager, das nächste Mal klappt's besser. Damit wird immer die Notwendigkeit einer produktiven In-Frage-Stellung der eigenen Position geleugnet. Heinrich Epskamp wird in Kontrast dazu Anforderungen das gewerkschaftliche Organisationslernen formulieren. À propos Leidensdruck: Oft kommt die Bereitschaft, das Alte in Frage zu stellen, erst auf, wenn die Alternativen dazu zum Vorschein kommen. Daran wollen wir in diesem Forum arbeiten. Denn in den Foren, denen wir den morgigen Vormittag widmen, wird ein reiches Spektrum dessen aufgeblättert, was vor Ort schon geschieht, um an einer zukunftsfähigen Gewerkschaft zu arbeiten. Im Hattinger Kreis sind Überlegungen im Gange, betriebliche und regionale Ansätze und Initiativen wie die hier vorgestellten durch unsere weitere Arbeit zu unterstützen. Diese Überlegungen werden wir nach den Rückmeldungen aus den Forum am Samstag in der Auswertungsdiskussion mit Dietmar Hexel zur Diskussion stellen.

Wir beginnen jetzt mit einer organisationspolitischen Reflexion aus der größten deutschen Einzelgewerkschaft (ist sie's noch?) - Ver.di. Frank Bsirske wird uns seine Erfahrungen vom Vereinigungsprozess zur Dienstleistungsgewerkschaft erläutern. Den Titel "Ersetzt Größe Reform?" haben wir in satirischer Zuspitzung vorgeschlagen. Bleibt aber doch die Frage: wie verhält sich ein solcher Fusionsvorgang zu den umrissenen Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit von Gewerkschaften?