Institut für Politikwissenschaft

Gewerkschaften heute: Zwischen arbeitspolitischer Kompetenz und sozialer Gerechtigkeit

Walther Müller-Jentsch

 

Die Rede vom „Doppelcharakter der Gewerkschaften“ ist fast so alt wie die Gewerkschaften selbst. Freilich transportiert sie, historisch bedingt, eine mehrdeutige Metapher mit wechselndem Gehalt. Angefangen bei Marx, der den Kampf im und gleichzeitig gegen das kapitalistische Lohnsystem als janusköpfige Aufgabe der Gewerkschaften umschrieb, über das in der Ära Otto Brenners und Heinz Klunckers gängige Begriffsdual: „Ordnungsfaktor und Gegenmacht“[1], bis zu den „zwei Gesichtern der Gewerkschaft“ (eine von den amerikanischen Arbeitsökonomen Richard Freeman und James Medoff[2] geprägte Formel) – die jeweiligen Inhalte der oppositionellen Begriffspaare sind höchst variabel. Will man ihnen dennoch eine gemeinsame Aussage abgewinnen, dann könnte es die folgende sein: Gewerkschaften agieren mit relevanten ökonomischen Effekten in kapitalistischen, das heißt marktwirtschaftlichen Systemen, ohne aber eine genuin marktwirtschaftliche beziehungsweise systemkonforme Institution zu sein.

Die Aufforderung der Redaktion, mich zur gegenwärtigen Lage der Gewerkschaften zu äußern, motiviert mich, meine Gedanken auf eine weitere Variante ihres Doppelcharakters zu konzentrieren, und diese liest sich so: Gewerkschaften sind (oder sollten sein) ein Organ der Volkswirtschaft und zugleich Garant sozialer Gerechtigkeit.

Obwohl der Mainstream des wirtschaftlichen Liberalismus von Adam Smith bis zu Friedrich August von Hayek keinerlei Affinitäten zu den Gewerkschaften entwickelte, finden wir in der liberalen Wirtschaftstheorie ein breites Spektrum der Ansichten über die Rolle der Gewerkschaften in der Wirtschaft. Sie reichen vom Störfaktor bis zum systemfunktionalen Bestandteil. Es waren liberale Denker wie Lujo Brentano, die in den Gewerkschaften schon früh ein Organ der Volkswirtschaft identifizierten. Wer, wie Brentano, Sidney und Beatrice Webb, Goetz Briefs und viele andere, im Arbeitsmarkt einen von den Kapital-  und Gütermärkten differierenden, besonderen Markt sah, hob die Regulierungsfunktion der Gewerkschaften für den Arbeitsmarkt als systemnotwendige hervor. Demnach ordnen und strukturieren Gewerkschaften nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern versetzen den Arbeitnehmer erst in die Lage, dem Lohndiktat des über viele Arbeitsplätze gebietenden Unternehmers zu trotzen, statt sich ihm als Kuli oder Tagelöhner zu unterwerfen. Erst durch Organisierung seinesgleichen konnte er ihm als gestärkter Verkäufer seiner Arbeitskraft gegenübertreten, mit der Gewerkschaft im Rücken, jenem Schutzgehäuse, das den unmittelbaren Angebotszwang lockert. Denn wer nicht warten kann, ist ohnmächtig gegenüber dem Lohndiktat.

Prekäres Organ der Volkswirtschaft

Um als Organ der Volkswirtschaft ernst genommen zu werden, benötigen die Gewerkschaften freilich nicht nur organisatorische Macht, sprich Druckpotential, sondern auch Kompetenz für die Lösung arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischer Probleme. Aus der mehr als fünfzigjährigen Nachkriegsgeschichte Deutschlands lassen sich viele positive Bespiele dafür finden. Zu erinnern sei hier nur an die Arbeitszeitpolitik, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Einführung von Lohnsystemen mit objektiven Bewertungskriterien, die Rationalisierungsschutzabkommen, die Humaniserung der Arbeit. Die Arbeitszeitflexibilisierung, ein weiteres Beispiel, ist den Gewerkschaften nach einem harten Arbeitskampf im „Leber-Kompromiß“ 1984 zwar erst aufgenötigt worden, aber heute ist sie – in Form von zeitlichen und personellen Flexibilitätsspannen, Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnausgleich (paradigmatisch dafür der VW-Tarifvertrag von 1993), Arbeitszeitkonten und dergleichen – fester Bestandteil vieler Tarifverträge. 

Wie das letzte Beispiel instruktiv zeigt, bedarf die kollektive Regelung des Arbeitsmarktes eines zweiten Akteurs: der Arbeitgeberverbände. Natürlich kann auch mit dem einzelnen Arbeitgeber ein Tarifvertrag abgeschlossen werden, aber bekanntlich ist der Firmentarifvertrag gegenüber dem Flächentarifvertrag in Deutschland nur sekundäre Regelungsquelle geblieben. Die Gewerkschaften haben ein essentielles Interesse an starken Arbeitgeberverbänden; dies gilt auch umgekehrt. Paradoxerweise muß beiden Verbänden daran gelegen sein, unter Umständen die Organisationsprobleme des gegnerischen Verbandes mitzulösen, soweit dies in ihrer Macht steht. Es waren keine Krokodilstränen, die angesichts der aktuellen Krise der IG Metall von der Führungsspitze von Gesamtmetall vergossen wurden.

Nicht zuletzt die Ordnung des beruflichen Bildungssystems gehört zu den zentralen Gegenständen paritätischer Regelungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Fragen beruflicher Qualifikation betrachten die Gewerkschaften mit Recht als ihre zentralen Aufgaben; sie sind das Pfund, mit dem sie schon in ihrer Gründungsphase als Berufsgewerkschaften wucherten. Es gibt meines Wissens kein effektives Berufsbildungssystem ohne die Existenz von starken Gewerkschaften, die an seiner Gestaltung beteiligt sind.

Übersehen lassen sich freilich nicht die negativen Beispiele, in denen sich defizitäre Kompetenz von Gewerkschaften manifestiert. Die gegenwärtige Krise der deutschen Gewerkschaften im allgemeinen und der IG Metall im besonderen läßt sich auch als fortschreitender Verfallsprozeß ihrer Kompetenz lesen. Nicht zu unrecht fragen sich viele Experten, ob es die Gewerkschaften nicht versäumt haben, aktiv die unabweisbare Modernisierung des Sozialstaates mitzugestalten. Wo sind ihre Konzepte zur Reduzierung der Lohnnebenkosten? zur Integration Langzeitarbeitsloser? zum Umbau der sozialen Sicherungssysteme? Immer weniger trauen den Gewerkschaften die Kompetenz zur Lösung drängender Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu; sie gelten vielmehr als „Blockierer“ und „Nein-Sager“.   

Aus der Organisationssoziologie wissen wir, daß Organisationen nur bedingt lernfähig sind. Es bedarf schon besonderer Herausforderungen und innovativer organisationsinterner Vorkehrungen, um die Schwerfälligkeit organisationaler Lernprozesse zu überwinden. Bei den Gewerkschaften kommt hinzu, daß sie ihrer Natur nach auf Neuerungen schlecht vorbereitet sind; denn sie reagieren primär auf Fakten, die andere schaffen, und sie schützen die Lohnabhängigen gegen die rasante Dynamik des Marktes. Das macht ihren Charme aus, aber auch ihre begrenzte Lernfähigkeit. So dauerte es eine ganze Zeitlang, bis die deutschen Gewerkschaften, bestärkt von uns linken Sozialwissenschaftlern, ihren Kampf gegen den Computer als Jobkiller als ein hoffnungsloses Unterfangen aufgaben. Ihr Widerstand gegen die europäische Wirtschafts- und Währungsunion sowie gegen die Globalisierung war schon halbherziger. Ein extremes Beispiel pathologischer Lernprozesse boten die britischen Gewerkschaften in der jüngeren Vergangenheit: Eisern verteidigten sie den Bleisatz gegen den aufkommenden Fotosatz und die Verschiffung von stapel- und verladbaren Stückgütern gegen den Containertransport. Erst die Brachialkur à la Thatcher trieb sie in schmerzhafte Lernprozesse. Positive Beispiele finden wir hingegen bei den skandinavischen Gewerkschaften, die Umbau- und Modernisierungskonzepte des Sozialstaats ihrer Regierungen aktiv mitgetragen haben, obgleich sie empfindliche Einschnitte in Besitzstände ihrer Klientel implizierten. Sie sind übrigens die einzigen Organisationen Westeuropas, deren Mitgliederbestand stabil geblieben ist.

Geschwächter Garant sozialer Gerechtigkeit

Ohne die Modernisierung der Gewerkschaften ist die Modernisierung des Sozialstaats schwer vorstellbar. Freilich sollten wir uns vor modischen Mißverständnissen hüten. Gewerkschaften sind keine Organisationen zur Förderung der Individualisierung oder Individualität, wie das einige gewerkschaftsfreundliche Sozialwissenschaftler vorschlagen, auch als Diskursorganisationen sind sie, als genuin bürokratische Organisationen, schlecht ausgestattet, aber sie haben die Individualisierung und Differenzierung der Arbeits- und Lebenslagen als relevante Bedingungen ihrer Praxis und strategischen Ausrichtung in Rechnung zu stellen. Modernisierung bedeutet auch weniger die Übernahme völlig neuer Aufgaben als die Neugestaltung ihrer Kernaufgaben und die Öffnung gegenüber neuen Mitgliedergruppen und neuen politischen Akteuren in der Zivilgesellschaft. Auf der Tagesordnung steht heute auch die Stärkung gewerkschaftlicher Präsenz auf der europäischen Ebene. Wann folgt der europäischen Aktiengesellschaft die europäische Industriegewerkschaft?

Verlieren die Gewerkschaften ihre wirtschaftliche Kompetenz, hören sie – mit anderen Worten – auf, ein Organ der Volkswirtschaft zu sein, dann schwächt dies auch ihre Rolle als Garant sozialer Gerechtigkeit. Dann wird es ihnen schwerfallen, weiterhin als repräsentative Vertretung der Arbeitnehmerschaft in toto aufzutreten. Schon heute stehen sie im Ruf des partikularen Interessenverband ihrer Mitgliederkerngruppen in Großbetrieben der Fertigungsindustrie. Ralf Dahrendorf stempelte sie gar als „Verteidigungsorganisationen absteigender Gruppen“, denen die wachsenden Arbeitnehmergruppen in den Dienstleistungsbranchen und wissensbasierten Zukunftsindustrien mit unverhohlener Skepsis distanziert gegenübertreten. Da diese Arbeitnehmergruppen zu einem beachtlichen Teil die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft repräsentieren, hängen gewerkschaftliche Macht und Kompetenz entscheidend von ihrer Mitgliedschaft ab.     

Von alarmierendem Ausmaß ist die Distanz der Jugendlichen zu den gewerkschaftlichen Organisationen. Es scheint so, daß jene Generation, deren Zukunft weit ungesicherter ist als die früherer Generationen, nicht nur das Vertrauen in die Lösungskompetenz, sondern auch in den Garanten sozialer Gerechtigkeit verloren hat. Liegt es daran, daß die viel beschworene Solidarität der Starken mit den Schwachen keine glaubwürdige Perspektive für die zukünftigen Arbeitnehmergenerationen bietet, weil diesen heute mehr abverlangt wird als ihnen später in Aussicht gestellt werden kann.   

Daß nicht alle Marktwirtschaften Gewerkschaften als komplementäre Regelungsinstitutionen benötigen, zeigen uns nicht zuletzt die USA. Deren wirtschaftliche Funktionen können in der Laissez-faire-Ökonomie ganz wegfallen oder durch funktionale Äquivalente ersetzt werden. In koordinierten Marktwirtschaften wie Deutschland und Schweden werden ihnen immer noch wichtige Regelungskompetenzen für den Arbeitsmarkt und das Arbeitsleben übertragen. Als (wie immer geschwächter) Garant sozialer Gerechtigkeit sind Gewerkschaften indessen nicht zu substituieren. Daß die Arbeitnehmer, inklusive der Arbeitslosen, ohne Gewerkschaften und ohne Tarifvertrag besser dastünden, ist ein Gerücht, das auch dadurch nicht glaubhafter wird, wenn es im Wirtschaftsteil seriöser Zeitungen von Rainer Hank und anderen Theologen des Laissez-faire immer wieder aufgetischt wird.

Vom Betriebsrat lernen

Die deutschen Gewerkschaften sind zwar kompetente Mitgestalter in der betrieblichen Arena, können aber hier im wesentlichen nur „Hand- und Spanndienste“ für den Akteur Betriebsrat leisten, der sich im Laufe seiner wechselvollen Geschichte zu einem veritablen „Organ der Betriebswirtschaft“ entwickelt hat. Von dem problemlösenden und gestalterischen Elan der Betriebsräte könnten die Gewerkschaften einiges lernen. Früher als diese haben sie sich zu pragmatischen Marktwirtschaftlern und ohne große Gegenmacht-Rhetorik zu kompetenten Co-Managern gemausert. Gerade unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen (Auftragsrückgang, Strukturkrise, Marktturbulenzen, Umstrukturierung von Unternehmensführung, Produktions- und Arbeitsorganisation) haben sie ihre Kompetenz während der letzten beiden Jahrzehnten auf die Probe gestellt und dabei an Regelungsautorität gewonnen. Eine Reihe jüngerer empirischer Untersuchungen[3] zeigen uns, daß der Betriebsrat in vielen Unternehmen als anerkannter (und geschätzter) Partner der Geschäftsleitung agiert.

Wenn es heute eine unumstritten kompetente Institution der deutschen industriellen Beziehungen gibt, dann ist es der Betriebsrat. Und wenn neoliberale Kräfte ihn auch noch als tarifpolitischen Akteur an die Stelle der Gewerkschaften setzen wollen, offenbart dies zwar deren Blindheit gegenüber der ausgeklügelten Arbeitsteilung zwischen überbetrieblichen und betrieblichen Regelungen (vor allem gegenüber der betrieblichen Externalsierung des Lohnkonflikts), aber auch die hohe Anerkennung, die der Betriebsrat selbst in diesem politischen Lager genießt.       

Autorennotiz:

Walther Müller-Jentsch ist emeritierter Universitätsprofessor für Organisation und Mitbestimmung an der Ruhr-Universität Bochum.

Der Artikel wurde in den Gewerkschaftlichen Monatsheften , Heft 10-11/2003 veröffentlicht  .



[1] Eberhard Schmidt veröffentlichte 1971 seine Analyse über die politische Rolle der Gewerkschaften unter dem Titel „Ordnungsfaktor oder Gegenmacht“ (Frankfurt/M. 1971).

[2] Vgl. Richard B. Freemann/James L. Medoff, What Do Unions Do, New York 1984.

[3] Vgl. stellvertretend für viele andere: Aida Bosch, Von Interessenkonflikt zur Kultur der Rationalität, München und Mering 1997.

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