Institut für Politikwissenschaft

Eberhard Schmidt

Die Angst der Organisation vor der Entgrenzung.

Anmerkungen zur notwendigen Modernisierung der Gewerkschaften

 

Was ist der wahre Platz der Gewerkschaften? Sie sehen sich zwar in ihrer Folklore noch gerne auf den Höhen des allgemeinen Menschheitsfortschritts. In Wirklichkeit sind sie aber die Interessenvertreter alternder Arbeitsplatzbesitzer. Engstirnig bei der Rente, aber in anderen Solidaritätsgeschäften, wie etwa gegenüber den Arbeitslosen, durchaus zum Handeln bereit.“

FAZ, 7.10.1999

 

 Die Lage erscheint ernst, aber nicht ganz hoffnungslos. Fast 4,5 Millionen Mitglieder haben die Gewerkschaften seit der Vereinigung der beiden Deutschen Staaten verlassen. Zählte man im DGB 1991 auf dem Höhepunkt des Mitgliederzugewinns durch die Übernahme der FDGB-Gewerkschaften 11.800.000 Mitglieder, so waren es 2003 nur noch 7..363.000, weniger noch als 1990 (7.938.000) und das nach dem Zusammenschluss mit der DAG (2001), die etwa 450.000 Mitglieder einbrachte. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad (inklusive Deutscher Beamtenbund und Christlicher Gewerkschaftsbund sank von 37,1% (1991) auf 23,9% (2002). Und der Abwärtstrend geht weiter. Lautete die Indexzahl der in den Betrieben beschäftigten Mitglieder bei der IG Metall 1991: 100, so ist sie 2002 bei 57 angekommen.

 

Die Gründe sind vielfältig: Die flächendeckende Entindustrialisierung und der Rückgang der Frauenerwerbsquote im Osten Deutschlands haben dort die ursprünglich hochschnellenden Mitgliederzahlen nach der Vereinigung kräftig reduziert. Beschäftigungsreduzierungen in allen Branchen, die Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit, besonders der Älteren, und die Enttäuschung über die Einflusslosigkeit der Gewerkschaften auf die Arbeitsmarktpolitik waren weitere Gründe für die Austrittswelle. Zusätzlich ist die abnehmende Bereitschaft zur dauerhaften Bindung an Großorganisationen im Zuge der Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft ein verbreiteter Trend. Schaut man noch genauer hin, findet man alters- und gruppenspezifische Differenzen, die auf den Kern des Attraktivitätsverlustes der Gewerkschaften hinweisen. Knapp ein Viertel aller IG Metall Mitglieder sind im Rentenalter, der Anteil der Mitglieder unter 25 Jahren hat von 14% auf 7% abgenommen. Bei Ver.di sind 16,7% der Mitglieder über 60 Jahre, nur 5% unter 28. Der Frauenanteil in der IG Metall beträgt nur 19% (beschäftigte Frauen in der Metallbranche dagegen: 45%). Hier kann Ver.di allerdings mit 49,3% (2002) Frauenanteil aufwarten. Vom Status her sind in der IG Metall ganz überproportional stark die Arbeiter vertreten, die Angestellten stellen nur 17% der Mitglieder, obwohl sie inzwischen rund 40% der Beschäftigten dort ausmachen. Zusammengefasst: den Gewerkschaften fehlt immer mehr der Zugang zu entscheidenden Gruppen des Arbeitsmarkts: den Frauen, den Jugendlichen, den höher Qualifizierten. Dass auch Teilzeitarbeitende und befristet Beschäftigte unterrepräsentiert sind, verwundert nicht. Sie sind ebenfalls mühsam zu organisieren, wenn den Gewerkschaften eine spezifische Politik für sie fehlt. Der von der FAZ erhobene Vorwurf der Selbstbezüglichkeit gewerkschaftlichen Handelns entbehrt also nicht der Grundlage. Er verweist auf das Dilemma, in dem die Gewerkschaften stecken.

 

Dieses Dilemma lässt sich beschreiben als Erfahrung von zunehmendem Machtverlust aufgrund einer Mitgliederstruktur, die nicht mehr der Beschäftigtenstruktur entspricht, bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die eigenen Organisationsgrenzen hin zu potentiellen neuen Mitgliedergruppen zu überschreiten, weil die blockierenden Tendenzen aus der alten Kernmitgliedschaft und der sie repräsentierenden Funktionärsschicht dies verhindern. Das wirft die Frage auf, warum die Gewerkschaften sich so schwer tun, diese „Rekrutierungsfalle“ (wie es der Hattinger Kreis, 2003, genannt hat) zu vermeiden, woran es liegt, dass die Ansätze zur Einwerbung neuer Mitglieder in den zukunftsträchtigen Beschäftigungsbereichen, aber auch bei Frauen, Jugendlichen und atypisch Beschäftigten so wenig erfolgreich sind und das Bild, das die Gewerkschaften in der Öffentlichkeit bieten, sie als Verlierer der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse von der Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft erscheinen lässt.

 

Als Organisation befinden sich die Gewerkschaften in einer turbulenten Umwelt. Die Arbeitswelt ist in einer dynamischen Entwicklungsphase, die die bislang als gesichert erscheinenden Schutznormen für Arbeitnehmer (das so genannte Normalarbeitsverhältnis) unter dem Ansturm von Globalisierungsfolgen und der Verbreitung und Internalisierung neo-liberaler Politikmuster bei den politischen und ökonomischen Eliten zusehends erodieren. Große Teile der ökonomischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Intelligenz unterstützen dieses Leitbild und die damit einhergehenden Reformvorschläge zur Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und -märkte. Die räumliche Entgrenzung der nationalen Ökonomien mit ihren Folgen der verschärften Konkurrenz um Arbeitsplätze und Einkommensniveaus, die zeitliche Entgrenzung des Arbeitstages unter dem Zwang zur Flexibilisierung der Leistungserbringung und der Anpassung an Kundenwünsche, zerreißt das Schutzpaket, das die Gewerkschaften im Konflikt und im Verein mit dem Staat jahrzehntelang geschnürt hatten.

 

Welche Optionen haben die Gewerkschaften, um auf diese gegenüber den vergangenen Jahrzehnten deutlich veränderte Situation zu reagieren, und Mitglieder zurück zu gewinnen oder sich neue Mitgliederschichten zu erschließen?

 

Eine erste Strategiewahl könnte in der Revitalisierung des politischen Handeln der Organisation bestehen, also in der Forcierung von Arbeitskämpfen, dem Abschluss von Sozialpakten oder einem verstärkten Lobbying gegenüber der Regierung, um so an Ansehen und Beitrittsbereitschaft bei den potentiellen Mitgliedern zu gewinnen. Aber die Bemühungen um das Bündnis für Arbeit und der Rückzug der SPD geführten Regierung aus dem engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften haben deutlich gemacht, wie eng hier inzwischen die Grenzen für ein erfolgreiches Handeln gezogen sind. Der Rückzug auf das gewerkschaftliche Kerngeschäft, die Tarifpolitik, begriffen als mehr oder weniger militante Verteidigung der Besitzstände der Kernmitglieder, die nicht zuletzt dafür ihre Beiträge bezahlt haben, hat ebenfalls seine Tücken. Militanz hat ihre Grenzen und lässt sich nur unter bestimmten Bedingungen optimal einsetzen, zumal im Rahmen des stark verregelten deutschen Arbeitsrechts. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Deutschland immer noch bei der Streikbereitschaft weit hinterher hinkt. Gingen in den Jahren von 1996 - 2000 in Spanien 182 Arbeitstage je 1000 Beschäftigten verloren, so waren es in Italien 76, in den USA 61, im Vereinigten Königreich immerhin noch  21 und in Deutschland nur noch ganze 2. (Hamann/ Kelly 2003). Der verlorene Arbeitskampf der IG Metall in Ostdeutschland hat zudem gezeigt, wie mühsam die Überzeugungsarbeit der Zentrale gegenüber den Mitgliedern in den Betrieben in einer feindlichen Umwelt sein kann.

 

Die alternative oder auch komplementäre Option bestünde in einer dezidierten Öffnung der Organisation für neue, bisher vernachlässigte oder schwerer erreichbare Mitgliedergruppen und in einer Politik, die die Veränderungen in der Arbeitswelt als Herausforderung für gestaltendes Handeln begreift, statt auf Besitzstandswahrung zu beharren.

 

Warum tun sich die Gewerkschaften so schwer mit dieser politischen Wende und was würde es bedeuten, eine solche tief greifende gewerkschaftliche Strukturreform in Gang zu setzen? Gibt es Erfolg versprechende Ansätze dazu? Diesen Fragestellungen sollen in den folgenden Ausführungen nachgegangen werden. Bei der Suche nach Ursachen für die gewerkschaftliche Misere konzentriere ich mich also nicht so sehr auf die äußeren Umstände, die es den Gewerkschaften derzeit schwer machen, erfolgreich zu handeln, etwa ihre systematische Schwäche in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit oder das Abhandenkommens des traditionellen politischen Partners, der SPD, der der Vormacht der neo-liberalen Deutungsmuster weitgehend erlegen scheint, sondern auf die eher hausgemachten Schwächen in der Organisationsstruktur der Gewerkschaften und die Ansätze, sie zu überwinden.

 

Ursachen der Resistenz gegen Veränderung

Die Suche nach den Ursachen des Widerstandes gegen grundlegendere Reformen der Organisationsstruktur in den Gewerkschaften lässt eine Vielzahl miteinander zusammenhängender Faktoren sichtbar werden.

Auf der mikropolitischen Ebene erscheint diese Resistenz als Abwehrroutine von beträchtlichen Teilen der mittleren Funktionärsschicht gegen Neuerungen und Experimente. Peter Glotz (1998) hat das einmal die „Lähmschicht der Funktionäre“ genannt. Man fürchtet den Verlust an akkumulierten Machtpositionen und möchte vermeiden, in Zonen der Unsicherheit zu kommen, in denen man sich mit den gewohnten und langjährig herausgebildeten Verfahrensweisen und Kommunikationsstilen nicht mehr erfolgreich darstellen kann. Die Annäherung an fremde kulturelle Milieus (höher Qualifizierte, Jugendliche, aber auch Frauen) gelingt nicht, weil der eigene politische Habitus, die Organisationsroutinen, die Sprache, die gesamte öffentliche und ästhetische Präsentation dem entgegenstehen.

Das korrespondiert mit der Angst vor dem Verlust an Kontrolle über die Organisationsglieder und entspricht dem weitgehend hierarchischen Organisationsaufbau der Gewerkschaften. Selbst wenn die Meinungsbildung an der Basis, in Betriebsversammlungen, Vertrauenskörpersitzungen, Tarifkommissionen usw. vielerorts nach wie vor lebendig sich vollzieht, gelangen die Ergebnisse doch nur stark gefiltert durch den gewerkschaftlichen Delegationsmodus nach oben, wo bei den Vorständen wiederum die gesamte finanzielle, publizistische und satzungsrechtliche Macht angesiedelt ist, die ihrerseits über Mittel und Einflusskanäle verfügt, die eigenen Auffassungen und Entscheidungen nach unten zu vermitteln. Der Fetisch von Einheit und Geschlossenheit als vermeintlich zentrales Fundament der gewerkschaftlichen Kampfkraft ist ein noch immer wirksames Disziplinierungsmittel, um abweichende Positionen, Projekte und Personen zu disziplinieren. Deshalb auch das große Entsetzen in der IG Metall über den jüngsten Machtkampf an der Spitze der Organisation zwischen Zwickel und Peters, bei dem die im allgemeinen in Gewerkschaften sorgsam verborgenen Formen des Gerangels um die Macht ins Licht der Öffentlichkeit gerieten.

Hinzu kommt das gegen alle Experimente und Neuerungen gerichtete, tief verankerte Sicherheitsdenken der deutschen Gewerkschaften. Der Kampf für die Sicherheit des Arbeitsplatzes; die Sorge um Rechtsförmigkeit des Handelns, auf die sich Betriebsräte und Rechtsschutzexperten allenthalben im Arbeitsleben berufen; die Sicherheit durch eingefahrene Arbeitsteilungen in der Organisation und durch zugeteilte Kompetenzen prägen als beständige Werte zutiefst den gewerkschaftlichen Alltag und das Denken der Funktionäre. Wird es infrage gestellt durch Querdenker und unorthodoxe Ideen und Vorschläge, setzt eine reflexartige Reaktion ein, die von Risikofeindlichkeit geprägt ist.

Jürgen Prott beschreibt die beteiligungsfeindliche Momente der gewerkschaftlichen Organisationspraxis als „eine Art Struktur gewordenes Misstrauen gegen diskontinuierliche, spontane, und kleinräumig beschränkte Partizipation...Im Habitus des lebenslangen Multifunktionsträgers verkörpert sich die dunkle Seite dieser Struktur“. Er stellt sie den Betriebsräte- und Beraternetzwerken als Ansätzen zu aktivierter Selbsttätigkeit gegenüber (Prott 2002, 416). Die hauptamtlichen Funktionäre wissen im Grunde „wo es lang geht“ und sehen sich im Stillen als die eigentlichen Träger der Gewerkschaftsbewegung an (Martens 2003, 41).

Die primäre Reaktion auf Mitgliederverluste bestand für die Gewerkschaften denn auch typischerweise in der Fusion der kleineren Gewerkschaften mit potenteren Partnern, ungeachtet von inhaltlichen Übereinstimmungen der Branchen oder Mitgliederschichten. Eine deutsche Spezialität, wie sich im internationalen Vergleich zeigt (Heery 2003). Nicht Anstrengungen zu mehr Mitgliedernähe, sondern Absicherung von Positionen des hauptamtlichen Personals und Wahrung von Einflusssphären, stand Pate bei den Entscheidungen der Fusionsbefürworter. Das Beispiel ver.di zeigt denn auch, wie sehr die mit der Fusion einsetzenden internen Kämpfe um die Bewahrung der eigenen Besitzstände die politische Artikulationsfähigkeit der vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft für Jahre gelähmt hat.

 

 

Das „erfolgreiche Scheitern“ der OE-Prozesse

Natürlich sind die Probleme mangelnder Attraktivität für Mitgliedergruppen, auf die die Gewerkschaften angewiesen sein werden, wenn sie im Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft einflussreich überleben wollen, auch in den betroffenen Gewerkschaften selbst erkannt worden. Die ersten Organisationsentwicklungsprozesse (OE-Prozesse) sind bereits am Beginn der neunziger Jahre eingeleitet worden, teilweise im Zusammenhang mit den Fusionsprozessen (zum folgenden vgl. Martens 2003)

 

Der Reformprozess der ÖTV, wissenschaftlich begleitet, hatte begrenzte Einsparerfolge in der Strukturbereinigung bei den Stabsfunktionen auf der Ebene der Vorstandsverwaltungen. Auf der mittleren Ebene wehrten sich die betroffenen Funktionäre allerdings erfolgreich gegen die Zumutungen, Macht und Ressourcen neu zu verteilen, womit die Stärkung der operativen Ebene vor Ort verhindert wurde. Im Hinblick auf eine Verbindung der Ziele Demokratie, Beteiligung, Effizienz habe, so die Beobachter, der Prozess außer einer intensiven Diskussion in der Organisation, nicht viel an Veränderung bewirkt. 

 

Das OE-Projekt der IG Metall, durch externe Beratung gestützt, das u.a. auf beteiligungsorientierte gewerkschaftliche Betriebspolitik zielte, blieb trotz begrenzter Erfolge weitgehend ungenutzt und strahlte kaum auf andere Bereiche aus. Die ausgebildeten Prozessmanager konnten ihre neu gewonnene Qualifikationen offenbar wenig anwenden. Von oben sei keine wirkliche Unterstützung dieser Projekte zu spüren gewesen, heißt es.

 

Der jüngst gestartete Organisationsentwicklungsprozeß der IG Bergbau-Chemie-Energie zielt auf Personalentwicklung und Kostenminimierung einerseits, Qualitätsmanagement und Kampagnen zur Mitgliederwerbung im Bereich höher Qualifizierter andererseits. Dabei hat es sich als besonders erfolgreich erwiesen, dass Teams von Hauptamtlichen gezielt in einige Betriebe gegangen sind, um potentielle Mitglieder (insbesondere auch im Bereich der Höherqualifizierten) direkt anzusprechen. Ein speziell eingerichtetes Ressort Marketing beim Hauptvorstand hat dazu eine Vorgehensweise entwickelt, die mehrere Faktoren in der Ansprache kombiniert: Argumentation auf des Basis neurolinguistischer Programmierung (NLP), Identitätsstiftung durch Präsentation der Gewerkschaft als Vertreterin neuester Technologie, Einsatz von Kreativtechniken, Mailkommunikation, Werbung in englischer Sprache (insbesondere im Ingenieurbereich), thematische Versammlungen für spezifische Gruppen im Betrieb (z.B. zu Leistungsbeurteilungssystemen).

Die Erfahrungen aus diesen Pilotprojekten sollen nun in die Fläche verbreitert werden, für die einzelnen Sektoren werden Zielzahlen der Mitgliederwerbung festgelegt, die erreicht werden sollen. Als Erfolgsbedingungen für diese Marketingarbeit, die den Mitgliederservicegedanken in den Mittelpunkt stellt, gelten: Bereitstellung ausreichender Ressourcen, direkte Ansprache potentieller Mitglieder, Finden der „richtigen“ Sprache dafür. Partizipation der Mitglieder sei im Rahmen der Mitgliederwerbung vor allem über das IG BCE eigene Projekt „Experten in eigener Sache“ möglich gewesen, hier habe es in einigen Fällen Synergien gegeben. Ob der Prozess erfolgreicher sein wird als die Anstrengungen der Schwestergewerkschaften steht noch aus.

 

Innovative Modellprojekte und ihre Grenzen

Aus all diesen OE-Prozessen sind aber einige durchaus weiterführende Einzelprojekte hervorgegangen, die als Ausdruck von Organisationslernen gewertet werden können und die die Grenzen des bisherigen Organisationsverständnisses überschritten haben, den Horizont für gewerkschaftliches Handeln auf unbekanntem Terrain sichtbar erweitern konnten.

 

Dazu zählt beispielsweise „connexx.av“- ein ver.di –Projekt, das im Medienbereich angesiedelt ist, 1999 von der damaligen IG Medien und der DAG gegründet, um im privaten Radio- und Fernsehbereich gewerkschaftlich Fuß zu fassen (Bartz, 2003). Mittlerweile sind acht ProjektmanagerInnen und fünf Verwaltungskräfte in fünf Regionen damit beschäftigt, persönliche Betreuungsarbeit für die Beschäftigten in der Medienindustrie zu leisten. Dies geschieht über ein jederzeit erreichbares virtuelles Büro, in dem die geballte Fachkompetenz der ProjektmanagerInnen ständig für diejenigen erreichbar ist, die Probleme haben und Rat benötigen in Fragen von Tarifverträgen, Arbeitsbedingungen, Interessenvertretung, Seminarplanungen etc.

Das Besondere daran ist, es wird nicht vorweg gefragt, ob jemand, der sich per mail oder direkt an connexx.av wendet, auch Gewerkschaftsmitglied ist. Die rasche und kompetente Erledigung der Anfrage ist oberstes Prinzip. Damit schafft man Vertrauen, zumal die Berater die Sprache der Klienten sprechen, sie kommen aus dem gleichen Arbeitsbereich, sind zumeist nicht Produkt klassischer Gewerkschaftskarrieren, sondern haben eher patchwork-Biographien und ein ausgeprägtes Dienstleistungsbewusstsein, gepaart mit der Bereitschaft auch zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten präsent zu sein. Auf die Kontaktaufnahme mit künftigen Klienten folgt in der Regel der Versuch der Bildung einer Kerngruppe, die mit email-Aktionen Diskussionsforen inszeniert und, einmal in der Firma bekannt, als Zelle für die Bildung eines Betriebrats fungiert (so bei Pixelpark, Kabel New Media, ISION, freenet etc.). Als Erfolgsparameter werden von den connexx.av –MitarbeiterInnen angegeben: relative Autonomie von der Zentrale, vernetzte Strukturen als effektives Betreuungsinstrument, regelmäßige Dialoge zwischen Organisation und Mitgliedern, gut gepflegte homepages, funktionierende Teamarbeit, Transparenz und die Erkenntnis der Bedeutung eines Kommunikationsmanagements für Gewerkschaften.

Mit OnForTe ist seit 1997 ein ähnliches virtuelles ExpertInnennetzwerk im IT Sektor tätig, das ArbeitnehmerInnen zu den Themen „Arbeiten, Lernen und Kommunizieren im Netz“ berät. Als Gemeinschaftsprojekt einiger Gewerkschaften aus dem Dienstleistungsektor gegründet, bietet es ein vielgestaltiges Leistungsangebot (Broschüren, Veranstaltungen, Unterstützung beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen etc.), das in Kürze in die ver.di-innotec GmbH eingegliedert werden soll. Es zeichnet auch verantwortlich für die ver.di Kampagne “Onlinerechte für Beschäftigte“ Auch hier werden ähnliche Erfolgfaktoren und Teamstrukturen wie bei connexx.av. aufgelistet (Schertel 2003).

 

Ein weiteres interessantes Beispiel für einen neuen Ansatz von Organisationspolitik stellt das Siemensprojekt der IG Metall in Bayern dar (Cramer, 2003). Mit einem Angestelltenanteil von 70%, darunter 46% mit akademischem Grad, war dieses größte Unternehmen im Einzugsbereich der IG Metall traditionell schon immer schwach organisiert (in Bayern lag die Quote 2002 bei nur 17,5%, im Konzern insgesamt bei 26%). In dem Hightech- und Dienstleistungskonzern mit seiner ausgeprägten Unternehmenskultur, der „Siemens-Familie“, und der gezielten Förderung gelber Verbände, wie der „Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB)“, konnte die IG Metall tarif- und betriebspolitisch lange Zeit wenig ausrichten, zumal die Betreuungsstruktur lokal organisiert war und weitgehend unkoordiniert jede Verwaltungsstelle „ihre“ Siemensbetriebe bearbeitete. Ziel des 1998 gebildeten regionalen Projektteams, personell eher schwach ausgestattet mit zuletzt drei Sekretären und einer Bürokraft, ging es zuerst einmal darum, das Ansehen der IG Metall und ihrer Betriebsräte in den Unternehmen zu heben und die Aktionsfähigkeit der Organisation zu steigern. Dies geschah mit einer ausgefeilten Kommunikationsstrategie, die auf der Höhe der üblichen innerbetrieblichen Kommunikation sein sollte: mit tagesaktuellen Internetseiten, regelmäßigen newslettern für die Betriebsräte und Verwaltungsstellen, Plakataktionen in der Tarifrunde sowie themenbezogenen Veranstaltungen zu Rente, Aktienprogrammen, allgemeiner Lage des Unternehmens und Entwicklung der Telekommunikationsbranche etc. Die verlässliche individuelle Verfügbarkeit der Betreuer auf allen Ebenen, die kurze Reaktionszeiten auf Problemstellungen ermöglichte, ergänzte das Konzept. Als zentral erwies sich die Besetzung des Themas Konzernstrategie durch die IG Metall als Gegenentwurf zur shareholder-value bestimmten Rationalisierungsstrategie des Siemensvorstandes. Dabei wurde bewusst an der corporate identity angesetzt, der positive Bezug zur Firma genutzt und mit der Interessenvertretung verknüpft. „Alles besetzen, was auch sonst im Unternehmen gedacht und gelebt wird“ lautete die Richtschnur (Martens 2003, 57).

Erste Erfolge gab es bei den Betriebsratswahlen 2002 und ebenso bei den Aufsichtsratswahlen, wo alle 3 externen und 5 interne Mandate gewonnen wurden. In einem neuen, vorher kaum organisierten Betriebsstandort (ICM) wurden über das Projekt „Future at ICM“, bei dem alle engagierten und interessierten Beschäftigten mitmachen konnten („powered by IG Metall“), 54-58% der Stimmen auf Anhieb gewonnen. Erfolgsrezept war die positive Identifikation mit der IGM, die über diese „Basisgruppe“ geschaffen werden konnte. Themen wie Zeitpolitik oder Betriebskindergarten und vor allem die Demonstration eigener unternehmerischer Kompetenz überzeugten auch bisherige Nicht-Mitglieder vom Wert der Interessensvertretung.

Das Projekt wurde nach 3-4 Jahren mit einem positiven Neuaufnahmetrend in Bayern beendet, wobei eine Annäherung der Struktur der Neuaufnahmen an die Belegschaftsstruktur besonders bedeutsam ist. 80% der Neuaufnahmen waren auf 20 von 65 Betrieben konzentriert, darunter vor allem die, auf die die Arbeit konzentriert worden war. Das Image der IG Metall bei Siemens konnte deutlich verbessert werden. Als erfolgsentscheidend wurden angesehen:

- die Bildung des Konzernteams mit dem Konzept „Betreuung aus einer Hand“, die eine bundesweite Abstimmung der Politik und ihren Transport in die betroffenen Verwaltungsstellen erlaubte sowie ein Controlling der Ziele,

- die Fokussierung auf ausgewählte Betriebe und

- die formale Federführung beim Vorstand der IGM, wobei die Problemlösungen aber in München erarbeitet wurden (quasi als Stabsstelle) und das Team selbst Schwerpunktsekretäre der Bezirke, Gesamtbetriebsratsbetreuer, einzelne Verwaltungsstellen und die Gesamtbetriebsrats- und Konzernbetriebsratsvorsitzende umfasste, womit die gewerkschaftliche und die betriebliche Interessenvertretung verzahnt wurden, ein innovatives organisatorisches Konzept für die IG Metall. Eine Struktur auf lokaler Basis wäre heute nicht mehr in der Lage, die Probleme in solchen multinationalen Konzernen aufzugreifen. Weltweit wird derzeit über englischsprachige Broschüren und websites agiert und im nächsten Schritt die Abstimmung mit den anderen zuständigen Gewerkschaften gesucht (internationaler newsletter).

Auch wenn das Team als arbeitendes Gremium nur Vermittlungsaufgaben hatte und keine Entscheidungsfunktionen bei sich konzentrierte, sind doch durch die Beteiligung aller Ebenen Eingriffsmöglichkeiten über Information, Beratung und Konsensfindung gegeben. Die Widerstände, die auszuschalten waren, berichten die Projektmanager, lagen vor allem im persönlichen Bereich (Stichwort „Betonköpfe“). Die Entwicklung fachspezifischer Kompetenz auch in unternehmensstrategischen Fragen sei aber letztlich stärker gewesen.

 

Schließlich bestätigt ein drittes Beispiel, das Call Center-Projekt im Bezirk Bremen von ver.di, die Notwendigkeit, bisherige Begrenzungen beim Zugehen auf potentielle Mitgliedergruppen zu überschreiten (Knieper, 2002). Dieses Projekt, das über den Bundesinnovationsfonds von ver.di finanziert wird, richtet sich vor allem auf den Bereich der externen, selbständigen Call Center, die bundesweit ca. 170.000 Beschäftigte umfassen, vorwiegend in Norddeutschland. Die Probleme für die MitarbeiterInnen liegen hier beim Leistungs- und Verhaltensdruck, bei der Kontrolle und bei der Entlohnung. Die Beschäftigten haben nur selten einen Betriebsrat, der sie vertritt. Die Dienstleistungen des Projekts richten sich deshalb auf den Aufbau von offenen Netzwerken, Internetseiten mit Beratungsangeboten, Unterstützung bei Betriebsratswahlen. Mitgliederwerbeaktionen wurden in einigen Städten wie Osnabrück (ca. 5000 Beschäftigte) und Wilhelmshaven (ca. 3500 Beschäftigte) durchgeführt, in diesem Zusammenhang auch kleinere Demonstrationen, workshops und Seminare für Betriebsratsmitglieder veranstaltet. Da die Beschäftigtenstruktur vor allem befristet Beschäftigte umfasst, deren Arbeitszeit von der Basis 15-20 Stunden ausgeht und sich nach Arbeitsanfall steigert, sind vor allem Frauen und Studierende anzutreffen, die Fluktuation ist naturgemäß hoch. Betriebsratsarbeit stößt oft auf den Widerstand der Beschäftigten, die Angst vor Verlagerungsdrohungen der Arbeitgeber haben. Der Berufstolz ist gering ausgeprägt, es handelt sich eher um eine „vorübergehende-jobber-Mentalität“.

Die Gewerkschaft muss sich hier, um erfolgreich zu sein, sachlich geben, über Sympathieträger verfügen, die nicht dem klassischen Funktionärstyp entsprechen, sondern sich auf das Milieu einlassen können und Kompetenz ausstrahlen. Gewerkschaftliche Sitzungsroutinen wirken eher abschreckend. Erforderlich ist eine ressourcenintensive Schwerpunktarbeit, für die aber oft die Mittel und Personen fehlen, auch sind die ver.di Organisationsstrukturen (Zuständigkeiten, Abgrenzungen) wenig geeignet für diese Arbeit. Zur Verstetigung der Arbeit  wäre deshalb eine neue Schnittstelle für Call Center Projekte in der Organisation erforderlich, die fachbereichsübergreifend arbeiten könnte, das wiederum stößt sich an der bestehenden Matrixorganisation und ihren Ressourcenegoismen. Hier könnte allerdings mit der vermehrten Aktivierung von ehrenamtlich tätigen Mitgliedern gegengesteuert werden. So könnte beispielsweise ein vom DGB anzustoßender externer Beratungspool vor Ort, in dem sich kompetente Mitglieder und zu Reaktivierende sammeln, Beratungsarbeit leisten. Von den Gewerkschaften gehen bislang aber viel zu wenig Experimente dieser Art aus.

 

Allianzbildung mit anderen Nicht-Regierungsorganisationen

Bündnisse mit Organisationen der Zivilgesellschaft können die Gewerkschaften mit Ressourcen versorgen, die zum Erreichen ihrer Ziele beitragen (Frege u.a. 2003). Bündnispartner beeinflussen ein auch für Gewerkschaften unter Umständen interessantes Klientel, können Sympathisanten bei demonstrativen Aktionen mobilisieren oder Expertenwissen einbringen, über das die Gewerkschaften selbst nicht ohne weiteres verfügen oder nur zu hohen Kosten einwerben müssten. Nicht zu unterschätzen ist auch der Zugewinn an Legitimität, der im gemeinsamen Handeln von Gewerkschaften und NGOs liegen kann, und der den Gewerkschaften Anerkennung bei Teilen der Bevölkerung verschaffen kann, die ihnen sonst skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Die hohe Glaubwürdigkeit, die, wie Umfragen zeigen, nicht wenige NGOs genießen, kann so von den Gewerkschaften mitgenutzt werden.

Die ansatzweise in Gang gekommene Allianzbildung mit Nicht-Regierungsorganisationen (zB. mit attac oder auch mit Greenpeace) erfordert allerdings eine Annäherung an andere Mentalitäten und Diskursverfahren, die noch zu lernen sind, wenn sie für die Gewerkschaften Unterstützung bei der Erreichung gemeinsamer Ziele bringen sollen. Im transnationalen Bereich gelingt dies den Gewerkschaften teilweise bereits recht gut. Im Bündnis mit NGOs, die zumeist phantasievollere Aktionsformen entwickeln und sich auf einen starken sozial-moralischem Impetus stützen, konnten transnationale Konzerne zur Einhaltung von sozialen und ökologischen Normen gezwungen werden (Schmidt 2004). In der kritischen Aufarbeitung der Globalisierungsfolgen ist es inzwischen weltweit zu relativ stabilen Bündnissen zwischen Gewerkschaften und attac sowie anderen Organisationen gekommen (etwa bei den Weltsozial- und Umweltgipfeln oder den Kampagnen gegen radikale Freihandelsstrategien der WTO), die auch auf die nationale Eben zurückwirken. Das Beispiel der Kooperation von ver.di und attac gegen die Gesundheitsreform und gegen die GATS-Vorhaben wäre nicht ohne die vorherige Zusammenarbeit im transnationalen bereich denkbar gewesen. Insgesamt erweitert solche Allianzbildung das gewerkschaftliche Handlungsrepertoire insbesondere in Sektoren, zu denen die Gewerkschaften bisher zu wenig Zugang hatten, die aber zunehmend wichtiger werden für die Interessenvertretung über das unmittelbare Arbeitsverhältnis hinaus. Den Gewerkschaften könnten über diese Schiene auch wieder stärker Elemente sozialen Bewegung zufließen, die in der Routine der alltäglichen Verwaltung von Mitgliederinteressen verloren zu gehen drohen.

 

Eine andere, lernfähige Gewerkschaft

Der Erfolg der beschriebenen Projekte hat eine wichtige Ursache in der Lösung von allzu starren Arbeitsteilungen und Kompetenzuweisungen in der Organisation, also in einer relativ autonomen Vorgehensweise einzelner Organisationsmitglieder. Man müsse die projektförmigen Ansätze „vor den verkrusteten bürokratischen Strukturen der IGM zu schützen versuchen“, war von Mitarbeitern im Siemensprojekt zu hören (Martens 2003, 58). An Stelle solcher Strukturen könnten Formen vernetzter Arbeit treten, in die sich engagierte Mitstreiter, insbesondere in Bereichen qualifizierter Arbeit, viel leichter einklinken können, nicht zuletzt, wenn ihnen eine Projektmitarbeit auf Zeit ermöglicht wird, die keine Verpflichtung zu umfassender Funktionärstätigkeit mit sich bringt.

Gleichermaßen bedeutet in diesen Projekten die Hinwendung zu einem modernen Dienstleistungsverhalten („Kundenorientierung“) und die intelligente Nutzung elektronischer Medien eine Voraussetzung für erfolgreiches Handeln, das quer zu vielen Organisationsroutinen steht..

Dennoch zieht der Status von Modellprojekten eine enge Grenze für die Verallgemeinerung. Projekte sind naturgemäß zeitlich begrenzt und ihre Überführung in alltägliches Organisationshandeln stellt ein zentrales Problem dar. Die Verallgemeinerung der gewonnenen Erfahrungen erfordert einen tiefen Eingriff in die gewachsene gewerkschaftliche Organisationsstruktur, eine Veränderung des Verhältnisses von Zentralität und Dezentralität, bei der es nicht nur darum geht, einigen dezentralen Projekte mehr Spielraum zu geben, sondern bei der auch eine Veränderung des Handelns und der Struktur der Zentrale selbst zur Disposition steht. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass Modellprojekte als „Inseln der Modernisierung“ die Zentrale geradezu vor unerwünschten Reformen schützen. Auf sie kann verwiesen werden als Beitrag zur Modernisierung der Organisation, den man ja leiste, ohne dass aus ihnen gelernt wird für die Veränderung von Strukturen.

 

Eine zukunftsfähige Gewerkschaft, die den Mitgliedern im Betrieb und vor Ort Räume schafft (im zeitlichen wie im örtlichen Sinne), um Verständigungsprozesse über gemeinsame Interessen und ihre Artikulation zu ermöglichen, müsste Hierarchien abbauen und auf Kontrollbedürfnisse verzichten, die ehrenamtliches Engagement permanent frustrieren, ob es sich nun um Jugendliche oder höher Qualifizierte handelt.

Eine Gewerkschaft, die formale Organisation und Netzwerke verknüpft (Martens 2003) würde die Ressourcen anders einsetzen, so wären mehr Budgetanteile auf nicht routinegebundene Ausgaben zu verteilen, beispielsweise in Innovationsfonds zu investieren, um Experimente zu finanzieren, und um Reflexionsprozesse untereinander und mit Experten in Gang setzen. Sie würde sich damit auch Sensoren zulegen, die es ihr ermöglichen, rechtzeitig Veränderungen ihrer Umwelt wahrzunehmen.

Gewerkschaftliche Bildungsarbeit wäre unter neuen Vorzeichen zu betreiben, etwa als interkulturelles Lernen, als Pflege des Umgang mit fremden Milieus, bei der Vielfalt als eigenständigen Wert einübt wird, statt auf einheitlichem Auftreten zu beharren. Der politische Habitus wäre in Richtung auf Beratung der Mitglieder und potentiellen Mitglieder in Fragen der arbeits- und lebensweltlichen Interessen zu verändern, statt der oftmals noch ungebrochen vorherrschenden Belehrung der Mitglieder über das, was vermeintliche Beschlusslage der Organisation sei.

Das vermehrte Sich-Einlassen auf neue Bündnispartner zielte ebenfalls in die Richtung eines Aufbrechens abgeschotteter Organisationsrituale und trüge zur Entgrenzung der Organisation bei, zu ihrer Öffnung für neue potentielle Mitglieder, Ideen und Aktionsformen.

 

Eine solche Veränderung von Organisationsstrukturen und politischem Habitus bedeutete für die Gewerkschaften nichts geringeres als eine kleine kulturelle Revolution: Wieviel Zentralität braucht es noch, um erfolgreiche Dezentralität zu praktizieren? Eine derartige Öffnung und Entgrenzung, die riskant erscheint, wird sich aber als notwendig erweisen, wenn die Transformation der Gewerkschaft von einer zentralen Grösse des korporatistisch verfassten Industriesystems zu einem erfolgreichen Player in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft gelingen soll. Dabei soll die Gefahr nicht verkannt werden, dass sich im Sektor der höher Qualifizierten im Zuge erfolgreicher Interessenvertretung auf begrenzten Gebieten etwa im IT- oder Medienbereich gewerkschaftsähnliche Organisationen herausbilden könnten, die eher „Cockpit“, dem Berufsverband der Piloten und Fluglotsen, ähneln und die Gesamtsolidarität der Beschäftigten einer Branche unterlaufen können. Dieses Risiko wird aber geringer, wenn sich die großen Gewerkschaften auf den Weg machen, ihre Identität neu zu bestimmen, sich „vom alten Arbeiterverein zur modernen Empowermentagentur“ (Klotz 2001) wandeln.

 

Anmerkung

Der Text erschien zuerst in: Einsprüche. Politik und Sozialstaat im 20. Jahrhundert. Festschrift für Gerhard Kraiker, hrsgg. v. Antonia Grunenberg, Hamburg 2005.

Er verdankt wesentliche Anregungen den Diskussionen des Hattinger Kreises über das Thema „Organisationslernen in Gewerkschaften“ .

Literaturnachweise

Bartz, Wille, Was zum Teufel ist connexx.av? Vortrag auf dem Hattinger Forum 2003, Hattingen 19./20.9.2003 (unv. Manuskript)

Cramer, Wigand, IG Metall@ Siemens: Kriterien für einen erfolgreichen Einsatz der Kräfte, Vortrag auf dem Hattinger Forum 2003, Hattingen 19./20.9.2003 (unv. Manuskript)

Frege, Carola M., Heery, Edmund, Turner, Lowell, Bündnisse mit sozialen Bewegungen als Strategie zur gewerkschaftlichen Neubelebung, in: WSI-Mitteilungen 9 (2003), S. 549-553

Glotz, Peter, Flucht vor der Wirklichkeit. Über Erstarrung und Verfall deutscher Institutionen,

in: Spiegel Special 9 (1998), S.178ff

Hamann, Kerstin, Kelly, John, Neubelebung der Gewerkschaften durch politisches Handeln, in: WSI-Mitteilungen 9 (2003), S. 528-533

Hattinger Kreis, Wege aus der Rekrutierungsfalle. Beitrag des Hattinger Kreises zur Zukunftsdebatte der IG Metall, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 9 (2002), S. 518-524

Heery, Edmund, Gewerkschaftliche Strategien gegen den Mitgliederschwund, in: WSI-Mitteilungen 9(2003), S. 5222-527

Klotz, Ulrich, Vom Arbeiterverein zur „Empowermentagentur“, in: FAZ v.11.09.2000

Knieper, Kornelia, Das Call Center Projekt des Bezirks Bremen von ver.di, in: Protokoll des ExpertInnengesprächs des Hattinger Kreises am 1.4.2003 in der Arbeitnehmerkammer Bremen (unv. Manuskript)

Martens, Helmut, Aufbrüche und blockierte Reformvorhaben. Gewerkschaftliche Organisationsreformen in den 1990ern. Vortrag auf dem Hattinger Forum 2003, Hattingen 19./20.9.2003 (unv. Manuskript)

Martens, Helmut, Primäre Arbeitspolitik und Interessenvertretung in der New Economy, sfs Dortmund, Beiträge aus der Forschung Band 137, Dortmund 2003

Prott, Jürgen, Beraternetzwerke von Betriebsräten – Ansätze aktivierender gewerkschaftlicher Betriebspolitik, in: WSI-Mitteilungen, 7(2002), S. 416-421

Schmidt, Eberhard, From Corporate Responsibility to Corporate Accountability. Trade Union Action towards norm-setting in the arena of sustainability. Vortrag auf dem IVth RLDWL Congress: “Transnational Co-operation on Social Regulation”, KwaZulu Natal University, Durban, South Africa, 25-29 February 2004

Schertel, Claudia, Wer oder was ist OnForTe? Vortrag auf dem Hattinger Forum 2003, Hattingen 19./20.9.2003 (unv. Manuskript)