Institut für Politikwissenschaft

Interview mit Walther Müller-Jentsch zum deutschen Mitbestimmungsmodell

Walter Müller-Jentsch ist emeritierter Professor für Soziologie, Mitbestimmung und Organisation. Bis zum Jahr 2001 war er an der Ruhr-Universität Bochum tätig. Seine

Arbeits- und Forschungsschwerpunkte waren beziehungsweise sind: industrielle Beziehungen, Industrie- und Betriebssoziologie, Organisationssoziologie und Wirtschaftssoziologie.

 

Im Interview mit e.conomy spricht er unter anderem über den Stellenwert des deutschen Mitbestimmungsmodells auch mit Blick auf die EU, über betriebsspezifische Mitbestimmungslösungen sowie über möglichen Reformbedarf.

Frage: Die deutsche Mitbestimmung ist entstanden aus einer langen Tradition der Arbeitnehmerbeteiligung. Die ersten institutionalisierten Ausprägungen gab es in den Arbeitnehmerausschüssen in der Zeit der industriellen Revolution, konkreter wurde es im Montangesetz, dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Mitbestimmungsgesetz im vorigen Jahrhundert. Wo steht die deutsche Mitbestimmungsregelung heute?

Antwort: Wir sollten zunächst einmal differenzieren zwischen einerseits der betrieblichen Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz mit der Zentralinstitution des Betriebsrats und andererseits der Unternehmensmitbestimmung mit der Repräsentation von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat.

Mitbestimmung im Aufsichtsrat kennen wir in drei verschiedenen Formen:

  1. als paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie nach dem Montanmitbestimmungsgesetz von 1951,

  2. als unterparitätische Mitbestimmung in den großen Kapitalgesellschaften der übrigen Wirtschaft mit über 2.000 Beschäftigten nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 und

  3. als Drittelbeteiligung in Kapitalgesellschaften mit 500 bis 2.000 Beschäftigten nach dem Drittelbeteiligungsgesetz von 2004.

Das Betriebsverfassungsgesetz wurde zuletzt 2002 novelliert. Dabei wurde die Zahl der Mandate für Betriebsratsgremien leicht erhöht und die Schwelle für die erste Freistellung eines Betriebsrats von 300 auf 200 Beschäftigte gesenkt.

Heftigere Kritik an der Unternehmensmitbestimmung wird von neoliberaler Seite geübt. Ein Vorschlag läuft auf die Abschaffung der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat hinaus. Die Arbeitnehmer sollen gewissermaßen an einen Katzentisch, genannt "Konsultativrat", verbannt werden.

Ein anderer Vorschlag läuft auf die Verkürzung der Arbeitnehmerbank auf ein Drittel der Mandate hinaus. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) haben in einer gemeinsamen Mitbestimmungskommission die Drittelbeteiligung als Auffangregelung vorgeschlagen, die im Rahmen von Verhandlungen über verschiedene, auch weitergehende, Optionen der Mitbestimmung die Untergrenze bilden soll.

Die Gewerkschaften sperren sich nicht grundsätzlich gegen eine Reform, lehnen aber verständlicherweise solche Veränderungen ab, die ihren Einfluss einschränken. Sie verweisen dabei zu Recht auf die von Managern immer wieder hervorgehobene positive Rolle der Mitbestimmung zur Sicherung des sozialen Friedens und zur Herbeiführung eines Konsenses vor allem bei schwierigen beschäftigungspolitischen Fragen.

Auch viele neutrale Beobachter aus den Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften konstatieren: Die Mitbestimmung ist eine historisch gereifte und bewährte Institution, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte.

Mit der neuen Gesellschaftsform nach europäischem Gemeinschaftsrecht, der Societas Europaea (SE), können Unternehmen leichter expandieren und sich über Ländergrenzen hinweg neu ordnen. Die Ausgestaltung der Mitbestimmung verhandeln Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite frei. Wenn sie sich nicht einigen, greift die gesetzliche Auffanglösung, wonach sich die Mitbestimmung grundsätzlich nach dem ausgeprägtesten Mitbestimmungsmodell in den Gründungsgesellschaften jener SE richtet. Wie bewerten Sie die Chancen, dass sich die deutsche Mitbestimmung hierbei bewährt?

Die Societas Europaea, auch Europa AG genannt, hat sich bislang als wenig attraktiv für europäische Firmengründer erwiesen. Zur Zeit sind keine zehn SE eingetragen, zwei davon in Deutschland, die überdies wegen ihrer Größe nicht dem Mitbestimmungsgesetz unterliegen.

Die (numerisch) paritätische Unternehmensmitbestimmung ist für viele ausländische Unternehmer eine unbekannte Größe. Anders als die deutschen Unternehmer haben sie damit keine Erfahrungen. Sie fürchten die "Einführungskosten", die zweifellos dadurch entstehen, wenn man sich auf oberster Unternehmensebene zunächst einmal mit Vertretern der Arbeitnehmerseite arrangieren und im betrieblichen Alltag einen Betriebsrat mit weitreichenden Beteiligungsrechten akzeptieren muss.

Selbst die deutschen Sozialpartner haben viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gebraucht, um in einem iterativen Prozess die Mitbestimmung zu einem Positivsummenspiel zu gestalten - nachdem sie lange als Kleinkrieg um Macht, Einfluss, Verfügungsrechte - kurz als Verteilungskampf -missverstanden worden war.

Die bislang relativ geringen ausländischen Übernahmen in Deutschland werden mit der Stärke der inländischen Unternehmen begründet. Zugleich wird lamentiert, dass ausländische Investoren Deutschland insbesondere wegen der Mitbestimmung meiden würden. Welche Bedeutung haben internationale Unternehmenszusammenschlüsse für die faktische Mitbestimmung in Deutschland?

Nun, es gibt zumindest ein bedeutsames Beispiel, das gegen die Annahme spricht, Mitbestimmung schrecke Investoren vor Übernahmen in Deutschland ab: die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone.

Mir ist nicht bekannt, dass die deutsche Mitbestimmung hier im Wege stand. Denkt man an die gerichtlichen Auseinandersetzungen um die dubiose Rolle des Aufsichtsrats, stellt sich eher der gegenteilige Eindruck ein.

Abzuwarten bleibt, ob die (noch in Beratung befindliche) neue Fusionsrichtlinie der EU potenzielle deutsche Fusionspartner für Ausländer attraktiver macht. An die Stelle der Festschreibung des jeweils stärksten Mitbestimmungsmodells (wie bei der Europa AG) soll bei Nichterreichen eines Mindestquorums eine Verhandlungslösung treten, die dann im Ergebnis auf eine Drittelbeteiligung hinausläuft.

Immer stärker wird gefordert, das Betriebsverfassungsrecht dahingehend zu ändern, dass mehr betriebsspezifische Lösungen möglich sind als derzeit. Wie bewerten Sie aus betriebs- und aus volkswirtschaftlicher Sicht diese Forderung?

Sollte man den Tarifvorbehalt für die Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen aufgeben, dann sehe ich darin eine sehr riskante Strategie. Man kann doch den Betriebsräten keine tarifpolitischen Kompetenzen übertragen, ohne ihnen nicht zugleich das für die Tarifautonomie konstitutive Streikrecht einzuräumen. Das aber bedeutet in der Konsequenz: "Häuserkampf".

Die legislativen Architekten der Institution des Betriebsrats waren gut beraten, den Lohnkonflikt zu externalisieren, das heißt, ihn aus dem Betrieb herauszuhalten und die Tarifparteien mit seiner Austragung zu beauftragen. Das Gesetz hat den Betriebsrat auf Problemlösungen und nicht auf Verteilungskämpfe programmiert. Ich kann nur davor warnen, den Betriebsrat in die Rolle des "Häuserkämpfers" zu drängen.

Der stabile soziale Frieden in Deutschland verdankt sich nicht zuletzt der klug austarierten Arbeitsteilung zwischen gewerkschaftlichen und betriebsrätlichen Aufgaben.

Worin sehen Sie Reformbedarf?

Wie die aktuellen Affären zeigen, kommen viele Aufsichtsräte ihrer Funktion als Kontrollorgan offensichtlich nur unzulänglich nach. Das ist aber ein Problem des gesamten Aufsichtsrats und liegt nicht an der Mitbestimmung. Dass der Aufsichtsrat der Reform bedarf, scheint mir außer Zweifel. Was die Vertretung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat betrifft, halte ich eine Stärkung des Einflusses der Betriebsangehörigen für sinnvoll, und zwar in folgenden Punkten:

  • Das Wahlverfahren zu den Aufsichtsratsmandaten in der Montanindustrie ist in einem uns heute befremdenden Ausmaß vom Prinzip der Repräsentation geprägt. Die Belegschaften wählen ihre Repräsentanten für den Aufsichtsrat nicht selbst, sie werden vielmehr von den Betriebsräten und den im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften ausgewählt. Eine direkte Wahlbeteiligung, das heißt Urwahl der Belegschaften, erscheint mir heute unabdingbar.

  • Zu fragen ist weiter, ob die für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 in Betrieben ab 8.000 Beschäftigten vorgesehene Delegiertenwahl nicht völlig zugunsten der Urwahl aufgegeben werden sollte. Dadurch erhielten auch die Mandate der Gewerkschafter eine glaubwürdigere Legitimation.

  • Bislang ist es nicht vorgesehen, dass deutsche Konzerne mit Tochterunternehmen im Ausland den Vertretern ausländischer Arbeitnehmer Sitze im Aufsichtsrat einräumen. Sollte nicht das, was etwa bei DaimlerChrysler bereits auf freiwilliger Basis geschieht, gesetzlich vorgeschrieben werden?

Und schließlich: Um die Institution der Unternehmensmitbestimmung zu stärken, muss sie auch in Europa Anerkennung finden. Eine paritätische Zusammensetzung des höchsten Unternehmensgremiums wird auf europäischer Ebene für Unternehmen mit dem so genannten "monistischen System" (ohne Aufsichtsrat) schwerlich durchzusetzen sein.

Auch die Gewerkschaften sehen die Notwendigkeit, dass das deutsche Mitbestimmungsmodell "europatauglich" gemacht werden muss, um es vor schleichender Auszehrung zu bewahren. Vor allem durch eine Europäisierung könnte es sich gegenüber opportunistischen Attacken von neoliberalen Meinungsführern und Lobbyisten in Medien und Verbänden behaupten.

In den jüngsten Mitteilungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) fordern Sie, den Arbeitnehmer auch als Betriebs- und Wirtschaftsbürger anzuerkennen. Was bedeutet dies konkret für das deutsche Mitbestimmungsmodell in der Zukunft?

Die wirtschaftliche Effizienz ist eine wichtige Vorbedingung für die Akzeptanz der Mitbestimmungsinstitutionen. Aber aus diesem Grund sind sie nicht ins Leben gerufen worden. Die ursprünglichen Intentionen waren andere. Einmal sollten dadurch die Rechte der sozial Schwächeren auf dem Arbeitsmarkt und im Arbeitsleben gestärkt werden, ein andermal wollte man die Demokratie auch im Arbeits- und Wirtschaftsleben verankern.

Der "Rheinische Kapitalismus" - wir können auch "Soziale Marktwirtschaft" sagen - versteht das Unternehmen als eine gesellschaftliche Institution und nicht allein als eine Bereicherungsquelle für renditehungrige Anleger. Neben den Aktionären (Shareholders) gibt es noch andere Anspruchsgruppen (Stakeholders), deren Interessen als legitime zu berücksichtigen sind. Dazu gehören unter anderem Arbeitnehmer, Konsumenten, Kommunen, lokale Anrainer. Insbesondere Arbeitnehmer haben Anspruch auf Mitwirkung an den Bedingungen, unter denen sie einen Großteil ihrer wachen und kreativen Zeit verbringen. Zur Mitbestimmung verpflichten schon die beiden ersten Artikel des Grundgesetzes. Mit der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit sind Autoritätsbeziehungen nur vereinbar, wenn der Arbeitnehmer nicht zum beliebig einsetzbaren Produktionsfaktor gemacht wird.

Ich möchte daran erinnern, dass der Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang Mischnick, in der Beratung über das Mitbestimmungsgesetz 1976 im Bundestag sagte: "Der gleiche Staatsbürger, der Gesetzgebungsorgane wählt und auf die Bildung seiner Regierung Einfluss nehmen kann, darf als Wirtschaftsbürger nicht wieder zum Untertan degradiert werden." Und im Bericht der ersten Biedenkopf-Kommission heißt es sinngemäß, Mitbestimmung im Unternehmen kompensiert die Abhängigkeit und organisatorische Eingliederung des mündigen Menschen in den Produktionsprozess.

Die für die deutsche Sozialordnung charakteristische institutionelle Lösung des "Abhängigkeitsproblems" impliziert, dass dem Arbeitnehmer demokratische Rechte eingeräumt werden.

Garantierte Rechte sind etwas anderes als "Wohltaten von oben", die eine wie immer auch generöse "Unternehmenskultur" einräumen mag. Mit dem Attribut des Arbeits-, Betriebs- oder Wirtschaftsbürger verbindet sich die Vorstellung verbürgter, nicht einseitig rückholbarer Rechte.