Institut für Politikwissenschaft

Jürgen Hoffmann

 

Der Lokführer – Streik:  Erinnerungen an die Zukunft der deutschen Gewerkschaftsbewegung

 

(Artikelvorschlag für die MITBSTIMMUNG)

 

Der Streik der Gewerkschaft der Lokführer hat zumindest fünf verschiedene Facetten, die auf Probleme gewerkschaftlicher Vertretung in Deutschland verweisen:

 

1.) Da sind einmal die unbestreitbar schlechte Entlohnung und die oft schlechten Arbeitsbedingungen, unter denen eine verantwortungsvolle Tätigkeit von Seiten der Lokführer ausgeübt werden muss – was allerdings oft und u.U. im noch höherem Maße auch für andere DB-Mitarbeiter wie z.B. die Fahrdienstleiter zutrifft, die nicht von der GdL vertreten werden. Trotzdem: Dieser Sachverhalt lässt allemal einen Arbeitskampf zur Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen gerechtfertigt erscheinen (auch wenn ein gefordertes Plus von 30% Lohnerhöhung schon fast utopisch erscheint). Die Frage, die sich hier aber stellt, ist die, warum die Gewerkschaft transnet nicht schon früher diese Problematik erkannt hat und sich für die Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen dieser Gruppe und anderer, ähnlich betroffener Gruppen stark gemacht hat. Insofern liegt hier wohl auch ein Versagen der größeren, gruppenübergreifenden Gewerkschaft vor, die besonderen Probleme der Lokführer und des Zugbegleitpersonals in die eigenen tariflichen Forderungen zu integrieren.

 

2.) Dies ist die eine Seite. Die andere Seite ist die, dass hier eine kleine Gruppe von Beschäftigten, die sich schnell auf gemeinsame, überschaubare Problemstellungen und Forderungen einigen kann, mit einem hohen Sanktionspotential ausgestattet ist und dieses Potential auch gegenüber dem Arbeitgeber und der Gesellschaft ausnützt und damit die auch aus der Sicht der Gewerkschaften sinnvolle Tarifeinheit in einem Unternehmen und das in Deutschland vorherrschende Prinzip „ein Betrieb – ein Gewerkschaft“ unterläuft. Diese Ausgangssituation ist nicht nur von den Fluglotsen, der Vereinigung Cockpit und den Ärzten, sondern auch aus der Organisationssoziologie nur allzu gut bekannt (vgl. Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns). Und dabei ist bei solchen Gruppen die Regel, dass hier nicht – wie Detlev Hensche in einem Beitrag in den „Blättern“ meint – durch Dumpinglöhne die gewerkschaftliche Macht ausgehebelt wird (was sicherlich im Fall der GdL gerade nicht geschieht), sondern dass die Lohnerhöhungen eben nicht mit den Schwächeren im Betrieb oder in der Branche geteilt werden. Darin drückt sich zugleich das klassische Dilemma von Großorganisationen aus, dass sie, gerade weil sie solidarisch mit unterprivilegierten, nicht sanktionsfähigen Gruppen unter ihren Mitgliedern sind oder weil sie sich in der gesellschaftlichen Pflicht sehen, sie deshalb die besonderen Interessen einzelner Gruppen, die tarifpolitisch u.U. sehr viel mehr herausholen könnten, nicht gebührend berücksichtigen können oder aber deren Erfolg auf die Schwächeren tarifpolitisch übertragen und zu durchschnittlich geringeren Ergebnissen kommen.

 

Auf dieses Solidaritätspostulat können die hier benannten kleinen, sanktionsfähigen Gruppen mit gruppenspezifischen Forderungen verzichten – sowohl gegenüber anderen Gruppierungen unter den Beschäftigten, als auch gegenüber der Gesellschaft – der (wenn auch tarifpolitisch gerechtfertigte, s.o.) ‚Egoismus’ der kleinen Gruppe lässt grüßen. Ähnlich den italienischen COBAS (comitati di base - Basiskommitees), die die Fähren nach Sardinien in Civitavecchia zur Ferienzeit bestreiken, wenn der Rest der italienischen Arbeiterklasse mit ihren Familien im Auto in der Warteschlange bei 40 Grad C schmort, wird hier ohne große Rücksicht auf die Gesellschaft zur Ferienzeit die Bahn bestreikt bzw. dies angedroht. Gesellschaftliche wie auch gewerkschaftliche Solidarität werden dabei hintan gestellt. Nun ist es ja nicht so, dass auch die großen Gewerkschaften – z.B. die alte ÖTV – nicht auch gestreikt hätten und dabei die Gesellschaft z.B. auf ihren Müllsäcken haben sitzen lassen. Das gilt genau genommen für jeden Streik, der immer auch in einem gewissen Grade gesellschaftliche Auswirkungen hat. Aber zugleich wurde immer auch von Seiten dieser Gewerkschaften versucht, diese gesellschaftlichen Folgen gering zu halten. Insofern ergibt sich hier schon ein anderes Bild.

 

Allerdings ist auch die letztgenannte Solidarität der DGB Gewerkschaften – sofern sie nicht im Gewande des Altruismus daherkommt – eine ausschließende Solidarität: Solidarität ist immer nur in umgrenzten Räumen (z.B. Unternehmen, Branchen, Sektoren, Nationalstaat) möglich, schließt deshalb immer die aus, die nicht „dazugehören“. Erst diese Handlungsräume machen eine solidarische Politik möglich und begrenzen zugleich die Reichweite der Solidarität – Frauen, Migranten/innen, ungelernte Beschäftigte in Niedriglohngruppen, „Scheinselbstständige“ u.a. wissen ein Lied davon zu singen. Insofern verweisen die anhand der Berufsverbände oben dargestellten Problemstellungen auch auf ureigene Probleme der großen Gewerkschaften.

 

3.) Die Auseinandersetzung bei der Bahn sind für die Gewerkschaften zudem brisant: Denn der Vorstoß der GdL kann zur Nachahmung seitens anderer Gruppen in den DGB-Gewerkschaften verführen und die Folgen für die etablierten großen Gewerkschaften wären dann verheerend: Denn da solche Nachahmer in der Regel jene Gruppen in den Gewerkschaften vertreten würden, die in einem hohen Maße sanktionsfähig sind, verlören die Gewerkschaften auf einen Schlag ihre „Kampfbattalione“ (M. Wulf-Mathies), mit denen sie in der Regel ihre Streiks zum Erfolg führen. Würden z.B. die Busfahrer und die Müllwerker in Ver.di – beide Gruppen sind mindestens ebenso wie oder mehr belastet als die Lokführer –  eigene Berufsverbände gründen, dann sähe es schlecht aus bei Streiks im Öffentlichen Dienst: Mit den schlecht organisierten Angestellten in den Kommunal- und Landesverwaltungen – von den nicht streikberechtigten Beamten ganz zu schweigen -  könnte Ver.di keinen Streik mehr erfolgreich durchsetzen. Und das gilt nicht nur für den Öffentlichen Dienst: Dass in der IG-Metall über die Gründung einer eigenständigen Automobilarbeitergewerkschaft spekuliert wird, ist ein offenes Geheimnis …

 

4.) Die Aktionen der GdL machen deshalb ein weiteres Problem deutlich, die Zukunft der deutschen Gewerkschaften betreffend: Die Dezentralisierung der Produktion, die Entgrenzung und Feminisierung der Arbeit und deren Individualisierung werden in Zukunft zu immer unterschiedlicheren Arbeits- und Lebensbedingungen führen, die immer schwerer in den alten Bahnen der Tarifpolitik einzufangen sind. Die Gewerkschaften des DGB müssen sich daher auf diese Komplexitätssteigerung ihrer Umwelt einlassen und selbst – ohne das Solidaritätspostulat aufzugeben – differenziertere Formen der Vertretung und der Forderungsstrukturen im Sinne einer Regulierung der Vielfalt entwickeln, sofern sie es nicht schon tun. Um noch einmal die Soziologie zu bemühen: Eine erhöhte Komplexität der Umwelt erfordert eben eine erhöhte Binnenkomplexität der Organisation, wenn diese sich erfolgreich in dieser Umwelt behaupten will. Ob dabei die stattgefundenen Fusionen eine Hilfe sind, muss sich erst noch zeigen (die Matrixstruktur von Ver.di kann eine Antwort sein, ist allerdings selbst vorerst noch wenig handhabbar seitens der Hauptamtlichen). Festzustellen ist jedenfalls, dass im Unterschied zu den DGB-Gewerkschaften die o.a. Berufsverbände einschließlich des Deutschen Beamtenbundes, die gruppenspezifische Interessen bündeln, nicht an Mitgliederschwund leiden (sieht man einmal von der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (UFO) ab).  

 

5.) Und eine letzte Lehre ist aus den Auseinandersetzung zwischen GdL und der DB zu ziehen – nämlich für die Arbeitgeber: Jene, die wie in letzter Zeit üblich, mal eben locker das Ende des Flächentarifvertrags fordern, sollten erkennen, dass dann ein permanenter und vielfältiger Kleinkrieg droht, der Kostenkalkulationen langfristiger Art, wie sie die deutsche Qualitätsproduktion aber benötigt, obsolet machen wird. Das voluntaristisch - pluralistische britische Modell der Arbeitsbeziehungen taugt wenig für die deutsche Form der Produktion, die den „Exportweltmeister“ gemacht hat. Nicht von ungefähr kommen deshalb aus dem Institut der deutschen Wirtschaft warnende Stimmen. Der Flächentarifvertrag bedarf sicherlich der Reform (s.o.), aber ihn zu zerschlagen, dies wird nicht zuletzt auch auf die Arbeitgeber bzw. die Unternehmen zurückfallen – die Auseinandersetzungen zwischen GdL und DB sind hier ein böses Omen.