Institut für Politikwissenschaft

  • Protokoll des Workshops des Hattinger Kreises:

    “Wie kann sich Neues in den Gewerkschaften entwickeln – Praktische Folgen von Organisationslernen“

    am 22./23.4.2005 im Bildungszentrum Marschenhof, Wremen

    Unter den 30 Teilnehmer/innen befanden sich zur einen Hälfte haupt- und ehrenamtliche Gewerkschafter/innen und Betriebsrät/innen, zur anderen Hälfte Wissenschaftler/innen.

    Nach der Begrüßung durch Frank Gerlach (HBS) und der Einführung von Ulrich Mückenberger (Uni Hamburg), die noch einmal die in dem Einladungsschreiben angeführten Intentionen des workshops erläuterten und vor allem auf die Hinwendung zu praktisch verbindlicher Arbeit des HK verwiesen, stellten Werner Fricke (IRC) und Erik Oeverland (Mitglied des norwegischen Forschungsrats) in Einleitungsreferaten das Modell der Search- bzw, Dialogkonferenz vor und erklärten anhand von Beispielen Anwendungsgebiete, Wirkungsweise und Erfolgsbedingungen dieses Instruments. (Beide Referate finden sich im Anhang zu diesem Protokoll)

    Anschließend wurden vier Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Teilnehmer/innen, gemischt nach Zugehörigkeit zu den oben genannten Teilnehmergruppierungen, den Fragen nachgingen, 1. wie das Konzept der Dialogkonferenz im Hinblick auf gewerkschaftliche Organisationsentwicklung zu bewerten sei, und 2. unter welchen Voraussetzungen sich Dialogkonferenzen im gewerkschaftlichen Kontext verwenden lassen, insbesondere welche Widerstände zu überwinden seien.

    Die Berichte der Arbeitsgruppen im Plenum ergaben eine Reihe von Hinweisen auf die Praktikabilität des Konzepts und seine Erfolgsbedingungen.

    Zunächst wurde festgestellt, dass das Konzept selbst eine Kombination bekannter Elemente von Organisationsentwicklungsverfahren enthalte. Das neue an dem Konzept liege zum einen in der Tatsache, dass hier quer zu den Hierarchien der Dialog gesucht werde, um Problemlösungen zu finden, zum anderen die hohe Verbindlichkeit, die von den Teilnehmer/innen einer solchen Dialogkonferenz für die anschließende Phase der praktischen Umsetzung der vereinbarten Ziele eingefordert werde.

    Des weiteren wurde thematisiert, wie mit den Hierarchiedifferenzen und den damit verbundenen Konflikten und Machtspielen umgegangen werden kann. Wer vernünftigerweise einbezogen werde in den Dialog, hänge von der Aufgabenstellung ab, wichtig sei aber, den Zugang zu den oberen Hierarchieebenen offen zu halten. Latente Konflikte müssten offen gelegt werden. Befürchtet wurde, dass die mangelnde Beweglichkeit des gewerkschaftlichen Mittelbaus (Angst vor Machtverlusten, Erstarrung in Arbeitsroutinen) hemmend wirken könne oder etwa „Großbetriebsräte“ schwer in solche Prozesse einzubinden seien. Deshalb sei eine sehr gewissenhafte Vorbereitung solcher Dialogkonferenzen erforderlich. Die Anwendung sollte möglichst auf lokaler oder territorialer, überschaubarer Ebene erfolgen und die Zielstellungen klar bestimmt werden. Die lokalen gewerkschaftlichen Akteure hätten die primäre Verantwortung für die einzelnen Schritte und sollten auch das Zeitbudget festlegen und die Koordinationsfunktion sicherstellen. Die Rolle der Wissenschaftler/innen müsse klar definiert werden. Sie seien gleichberechtigte Teilnehmer/innen, die ihr Wissen und ihre Kompetenz, wie andere ihre Arbeitserfahrungen auch, in die Arbeit einbringen. Sie hätten nicht die Rolle als externe Expert/innen zu spielen, die bereits mit Problemlösungen in den Dialog hineingehen. Unterschiedlich beurteilt wurde, wie und ob sie auch eine intervenierende Instanz sein sollten, die in bestimmten Phasen Reflexionsprozesse über das Erreichte anstoßen oder gar als Moderator/innen auftreten sollen, die Konfliktstellungen auflösen. Hier spiele auch wechselseitige Vertrauensbildung eine wichtige Rolle

    Diskutiert wurde darüber hinaus, ob nicht bei solchen Prozessen „ein Anfang und ein Ende“ mit bestimmten Ergebnissen definiert werden müssen und inwieweit in diesem Zusammenhang eine Messbarkeit der Ergebnisse solcher Prozesse möglich sei. Müsse nicht ein regelmäßiges Monitoring stattfinden und Meilensteine gesetzt werden, an denen sich der Fortschritt der gemeinsamen Arbeit ablesen lasse? Einigkeit bestand darin, dass es sich um langfristige, weil offene Prozesse handele.

    Schließlich wurde die Frage nach der Ausstrahlung solcher Dialogkonferenzen auf lokaler Ebene in die Organisation und die gewerkschaftliche Öffentlichkeit hinein, aufgeworfen.

    Erik Oeverland und Werner Fricke betonten in ihren Kommentaren zu den Ergebnissen der Arbeitsgruppen noch einmal:

    - die Verbindlichkeit der Absprachen zwischen Entscheidungsträgern und Betroffenen

    - die Kontinuität der Arbeit nach der Initialzündung der Dialogkonferenz

    - die Notwendigkeit der Anpassung des Konzepts an konkrete Situationen und Kontexte

    - die Beteiligung aller Hierarchiestufen einer Organisationsgliederung in der konkreten Arbeit an den Problemen durch die Schaffung von Arenen, in denen gleichberechtigte offene Dialoge möglich werden

    - die mitwirkende Rolle der Wissenschaftler/innen, die nicht als externe Therapeuten oder Problemlöser auftreten dürften, sondern ihr Wissen im Dialog zur Verfügung stellen sollen und soweit erforderlich auch ihren anderen Blick auf die Dinge einbringen.

    Was die Vorgabe von Zielen durch die obere Ebene betreffe, so muss die jeweilige Einheit selbst entscheiden, weil und mit wem sie einen Freiraum für den Prozess vereinbaren muß. Faktisch konfrontiert sich die Organisation hier mit ungelösten Problemen und muss prüfen, welche Interessen zu berücksichtigen sind, welche Ressourcen die Organisation für die Lösung mobilisieren kann. Der Reiz liegt darin, sich auf neue Weise mit den Problemlagen auseinander zu setzen.

    In der anschließenden ausführlichen Diskussion im Plenum wurden weitere wichtige Aspekte und offene Fragen des Konzepts erörtert, Bedenken vorgetragen und Anregungen gegeben, u.a.:

    - Wie ist langfristige Arbeit zu gewährleisten, wenn angesichts wechselnder thematischer und politischer Konjunkturen Verbindlichkeit nur auf kurze Frist sicherzustellen ist (Zeitdimension des Konzepts)?

    - Wie steht dieses Instrument in Zusammenhang mit den Erfahrungen aus bisherigen Organisationsentwicklungsprojekten? Was haben die bisherigen Verfahren gebracht? Bevor neues angegangen wird, sollte das schon Geschehene ausreichend evaluiert werden.

    - Wenn die Erfahrung so ist, dass die bisherigen Projekte zwar „schöne Erlebnisse“ waren, aber nichts umgesetzt wurde, muss künftig vor allem auf die Verbindlichkeit der Prozesse geachtet werden. Ein zeitliches Ende muss in die Verbindlichkeit hineingenommen werden, Meilensteine sollten definiert werden und ein Controlling durch die Organisation erfolgen. Die Gefahr der Hierarchisierung der Argumente ließe sich evtl. durch Anonymisierung der Argumente in chatrooms bewerkstelligen. Dagegen wird eingewandt, dass dieser Vorschlag der Grundidee des demokratischen Dialogs widerspricht. Danach stellt die Gruppe in offenem Dialog das Gewicht der Argumente fest. Es geht im demokratischen Dialog ja gerade darum, die Handlungsweise von Hierarchie Schritt für Schritt in Richtung dialogischen Handelns auch im Alltag der Organisation zu verändern. Dazu ist Lernen aller Beteiligten erforderlich, das aber ohne persönlichen Kontakt von Personen aus unterschiedlichen Hierarchiestufen nicht stattfindet.

    - Dezentral begrenztes Handeln kann u.U. die hauptsächlichen Gefahren bisheriger Organisationsprojekte vermeiden (fehlende Konsistenz, Verlorengehen der Ziele im Prozess, blockierende Machtstrukturen). Die kollektive Zielkontrolle bzw. -änderung muss im Auge behalten werden, dafür sind auch die Wissenschaftler als Reflexionsinstanz verantwortlich.

    - Die Attraktivität des Werkzeugs Dialogkonferenz besteht darin, dass es demokratieorientiert ist und nicht auf Stellvertreterpolitik angelegt. Deshalb dürfen die Projekte nicht zu groß dimensioniert sein, also beispielsweise nicht die Änderung der gesamten Verwaltungsstelle in den Blick nehmen, sondern sollten einzelne Einheiten betreffen, etwa die Entritualisierung von Gremienarbeit, der Ablauf von Delegiertenkonferenzen, die Gewinnung hochqualifizierter Angestellten, die Dienstleistungsqualität im Alltag der Verwaltungsstelle. Die Folge der Themenzentrierung sei dann aber auch die Notwendigkeit einer Vorabfestlegung der Teilnehmerzusammensetzung.

    - Gegen diese Sichtweise wurde eingewandt, dass eine zu enge Problemstellung und insbesondere ihre vorzeitige Festlegung leicht dazu führen könne, dass sich Prozesse festfahren (Erfahrung aus HdA –Projekten), deshalb sei es gerade von besonderer Bedeutung von der Organisation auf lokaler Ebene als Ganzer auszugehen und in einem intensiven, gemeinsamen Vorbereitungsprozess die zentralen Probleme der Verwaltungsstelle zu klären, und von daher die Zusammensetzung einer Dialogkonferenz zu bestimmen. Nur so lasse sich erreichen, dass die beteiligten Akteure die für sie wichtigen Fragen auch tatsächlich zur Sprache bringen und behandeln können.

    - Zu warnen sei vor der Sichtweise, dass Problemwahrnehmung nur von unten komme, OE-Prozesse seien eher von oben angestoßen worden. Die Kunst bestehe vermutlich darin, beide Aspekte zu verbinden: Die Leitungsebene muss sagen, was sie will und sich gleichzeitig zurücknehmen können. Sie muss dem Prozess aber auch die nötige Rückendeckung geben, sonst blockieren diejenigen in der Organisation, die Angst haben vor Veränderungen, den Prozess.

    - Was den zeitlichen Aufwand für die in der Alltagsarbeit der Verwaltungsstelle stehenden Mitarbeiter/innen beträfe, so zeigten die Erfahrungen aus den Projekten in Skandinavien, dass dies kein zentrales Problem sei, sondern der zeitliche Bedarf sich mit den ständigen Aufgaben in Einklang bringen lasse.

    Im Schlussteil des workshops wurden die Aufgaben des Hattinger Kreises im Kontext von Dialogkonferenzen und seine weitere Perspektive diskutiert.

    Danach herrschte Übereinstimmung, 1. dass zunächst geklärt werden soll, ob sich Dialogkonferenzen (mit allen Implikationen) in Bremen (IG Metall-Verwaltungsstelle) und/oder in der DGB Region Südoldenburg realisieren lassen. Andere Teilnehmer/innen des workshops wollen das mittelfristig für ihre Organisationsbereiche (etwa Region Hannover) ebenfalls prüfen.

    2. soll der HK als Transferinstanz fungieren und die Erfahrung mit diesem Ansatz in die gewerkschaftliche Öffentlichkeit tragen, zur Ausstrahlung dieser Ansätze beitragen. Gleichzeitig soll die theoretische Arbeit des HK fortgesetzt, aber stärker an praktische Ansätze rückgekoppelt werden. Doppelgleisigkeit und Verzahnung sind dafür die Stichworte.

    Protokoll: Eberhard Schmidt, 27.4.2005

    ANHANG

    Werner Fricke

    Das Modell der Dialogkonferenz zur Vernetzung von Wissenschaftlern und Gewerkschaftern als Arbeitskonzept für den Hattinger Kreis

    1. Herkunft des Konzepts der search Konferenz

    2. Von der Search- zur Dialogkonferenz.

    3. Anwendungsgebiete

    4. Thematischer Aufbau einer Dialogkonferenz im gewerkschaftlichen Kontext

    5. Vorschlag Seminarablauf

    6. Nachbemerkung

    7. Anmerkungen zur Diskussion in Wremen, insbesondere zur Rolle der Wissenschaftler

    Einleitung

    In den Workshops der letzten zwei Jahre hat der Hattinger Kreis mehrfach KollegInnen gebeten, über ihre Erfahrungen mit gewerkschaftlichen Projekten zu berichten, die auf organisatorische und inhaltliche Neuerungen in unterschiedlichen gewerkschaftlichen Kontexten zielten (gewerkschaftliche Innovatoren). Alle diese Projekte fanden in Randzonen der gewerkschaftlichen Organisation (einzelne Verwaltungsstellen, Unternehmen) und mit vorgegebener, begrenzter Zielstellung statt (insbesondere neue Methoden der Mitgliederwerbung). In der Regel wurden ihre Erfahrungen nicht in das Routinehandeln der Organisation übernommen. Dies Schicksal ereilte selbst die Zukunftsdiskussion der IG Metall, wenn auch aus einer Reihe anderer Gründe (zu großer Anspruch, Mißverhältnis von Vorgehensweise und Zielerwartung, Krise um die Nachfolge von Zwickel, die langjährige Dialogunfähigkeit insbesondere der IG Metall Vorstandsverwaltung: Konflikte wurden nicht ausdiskutiert, sondern führten zu Positionskämpfen und damit verbundenen jahrelangen Erstarrungen der Organisation).

    Immer wieder endeten die Diskussionen des Hattinger Kreises über innovatorische Gewerkschaftsprojekte mit der Feststellung, dass gewonnene Erfahrungen nicht organisationswirksam wurden und mit entsprechender Ratlosigkeit. Da die Wiederholung dieser Art Diskussion auf Dauer für alle Seiten unbefriedigend ist, entschloß sich der Hattinger Kreis, ein öffentliches Forum für innovatorische Gewerkschaftsprojekte zu bilden, um die Erfahrungen der Projekte und die Möglichkeiten ihrer Übertragung in Routinehandeln der Organisationen mit Vertretern des gewerkschaftlichen Apparats zu diskutieren. Außerdem sollte parallel dazu der Versuch unternommen werden, eine Allianz von haupt- und ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Funktionären, gewerkschaftlichen Innovatoren aus den Projekten und Wissenschaftlern des Hattinger Kreises zu bilden, um einen konkreten Prozeß gewerkschaftlicher Organisationsentwicklung (OE) zu organisieren. Dabei war von Anfang klar, dass ein solcher Prozeß nur in einem überschaubaren Bereich irgendwo am Rande der Organisation einer Gewerkschaft beginnen kann. Das Feld muss überschaubar sein, der Kreis der zu beteiligenden Akteure zunächst begrenzt. Wenn sich ein solcher OE Prozeß erfolgreich und dauerhaft organisieren läßt, dann kann er durchaus, so eine realistische Erwartung, weitere Gliederungen der Organisation erfassen.

    Ein solcher Prozeß hat erheblichen Zeitbedarf, er kann nur langfristig angelegt sein. Er erfordert von allen Beteiligten ein beträchtliches Maß an aktivem Einsatz. Wichtig ist, dass nicht gleich die gesamte Organisation einer Gewerkschaft ins Auge gefasst wird, sondern zunächst ein überschaubarer Bereich am Rande der Organisation, z.B. eine Verwaltungsstelle. Ebenso wichtig ist aber auch, dass der OE Prozeß von Anfang an in einer Gliederung der Organisation begonnen wird, damit er unter realen Bedingungen stattfindet und die Chance eröffnet, mit der Zeit in die Organisation hineinzuwirken.

    Das skandinavische Konzept der search-, später Dialogkonferenz ist ein über Jahrzehnte erprobtes Instrument, einen solchen Handlungsprozeß, getragen von einer Allianz von Akteuren, zu entwerfen und einzuleiten. Jede Dialogkonferenz endet damit, dass die beteiligten Akteure die ersten gemeinsamen Handlungsschritte verbindlich vereinbaren, nachdem sie sich zuvor über das Entwicklungsziel und die zu erwartenden Schwierigkeiten verständigt haben. Wichtig ist, dass alle Teilnehmer von Anfang an bereit sind, sich in einem Entwicklungsprozeß aktiv zu engagieren, dass Akteure aus einem gewerkschaftlichen Handlungsfeld bereits zur Mitarbeit gewonnen sind und an einer vom Hattinger Kreis zu organisierenden Dialogkonferenz teilnehmen, auf der ein OE Prozeß eingeleitet werden kann.

    1. Zur Tradition des Konzepts der search Konferenzen

    Das Konzept der Search Konferenzen wurde in Skandinavien in den 1960er Jahren entwickelt. Es ist verbunden mit Namen wie Emery, Thorsrud, Gustavsen.

    Ihr Hauptanwendungsgebiet waren ursprünglich Betriebe (meist Industriebetriebe, aber auch Kommunalverwaltungen, später auch Gesundheitsbetriebe) mit hierarchischer Struktur, die vor der Aufgabe stehen, ihre Organisation zu verändern. Häufig, nicht immer, hatten sich diese Betriebe die Aufgabe eines Organisationswandels selbst gestellt. Es ging sowohl um die Arbeitsorganisation (d.h. die Organisation der täglichen Arbeit), als auch um die Anregung und Organisation von Innovationen.

    Ziel der Search Konferenzen war es, allen Akteuren etwa eines Betriebes Gelegenheit zu geben, selbst und gemeinsam die Inhalte, Ziele und Strategien von innovatorischen Prozessen zu entwerfen und verbindlich zu vereinbaren.

    Anfangs ging es in der Regel um die Demokratisierung von Strukturen. Später, in den 90er Jahren lag der Schwerpunkt eher bei der Organisation von Innovationsprozessen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, aber auch dabei sollte es demokratisch zugehen. In beiden Fällen sollten daher alle Gruppen, die in einer Organisation zusammenarbeiten, am Suchprozeß und später an der Realisierung der vereinbarten Ziele beteiligt werden, d.h.

    das Top Management (TM)

    das mittlere Management (MM)

     die Beschäftigten und ihre Interessenvertreter.

    2. Von der Search- zur Dialogkonferenz.

    Insbesondere unter dem Einfluß Gustavsens ist in den 90er Jahren aus der Search- die Dialogkonferenz geworden. Der Unterschied liegt in der Betonung der Offenheit und Permanenz des einzuleitenden Entwicklungsprozesses sowie des Dialogs als eigenständigem Wert. Gustavsen und seine Mitarbeiter erkannten, dass die Einübung von demokratischen Dialogen zur Ausbildung von Verhaltensweisen und Fähigkeiten führt, die für die Bewältigung selbst bestimmter Entwicklungsprozesse unerlässliche Voraussetzung sind. Im Unterschied zur Search-Konferenz betont das Konzept der Dialogkonferenz also die große Bedeutung von Dialogfähigkeit und –bereitschaft für jedweden Entwicklungsprozeß. Was diese Fähigkeiten angeht, sind Skandinavier viel weiter als soziale Akteure in Deutschland, das in der Frage demokratischen sozialen Dialogs ein Entwicklungsland ist. Ich komme am Schluß noch darauf zurück.

    Das Schlüsselkonzept der Dialogkonferenzen ist in den Regeln des demokratischen Dialogs enthalten. Diese Regeln sind aus jahrzehntelanger Erfahrung gewonnen und Anfang der 90er Jahre in der vorliegenden Form von Gustavsen zusammengefasst worden (Gustavsen 1992, S. 14 ff). Sie sind also nicht normativ zu verstehen, vielmehr können sie, so sagt Gustavsen selbst, von den Teilnehmern einer Konferenz einvernehmlich für ihre Zwecke weiterentwickelt werden vorausgesetzt, alle Teilnehmer einigen sich darauf, damit der demokratische Charakter des Dialogs erhalten bleibt.

    Die wichtigsten Regeln des demokratischen Dialogs sind:

    Die Teilnahme muß allen Betroffenen offen stehen

    Die Möglichkeit der Teilnahme allein reicht nicht. Jeder Teilnehmer ist nicht nur verpflichtet, die eigenen Ideen vorzutragen, sondern auch den anderen bei der Einbringung ihrer Ideen zu helfen.

    Alle Teilnehmer sind gleichberechtigt

    Praktische Arbeitserfahrung ist die Voraussetzung für die Teilnahme, es ist per Definition die einzige Erfahrung, über die alle Teilnehmer verfügen.

    Alle Argumente sind legitim, die mit den diskutierten Themen in Zusammenhang stehen.

    Jeder Teilnehmer hat anzuerkennen, dass andere Teilnehmer bessere Argumente haben können.

    Die Arbeitsfunktion, Autorität etc aller Teilnehmer kann zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden – kein Teilnehmer ist davon ausgenommen.

    Die Teilnehmer sollten in der Lage sein, ein wachsendes Maß an Meinungsverschiedenheiten zuzulassen.

    Der Dialog soll jederzeit zu Vereinbarungen führen, die als Plattform für eine gemeinsame Aktion dienen könnten.

    Der Suchprozeß wird also mit einem Dialog eingeleitet. Er soll nicht nur mit der Vereinbarung von Inhalten, Zielen und Vorgehensweisen im Prozeß des Organisationswandels enden, sondern auch mit der verbindlichen Vereinbarung von Entwicklungsschritten, von gemeinsamen Aktionen also.

    In der Regel gelingt in Skandinavien die Anwendung der Kriterien demokratischen Dialogs, in deutschen Betrieben ist das schon schwieriger, wie es in einer deutschen Gewerkschaft ist, wird sich herausstellen, wenn das Konzept konkret in einem gewerkschaftlichen Zusammenhang angewendet wird. Zu bedenken ist, dass die Schwierigkeiten im praktischen Entwicklungsprozeß noch größer sind als in Dialogkonferenzen.

    In einigen skandinavischen OE Projekten sind daher neben der Arbeitsorganisation, die die täglichen Arbeitsvollzüge regelt, Entwicklungsorganisationen gebildet worden. In ihnen arbeiten Vertreter aller betrieblichen Gruppen (TM, MM, Beschäftigte) gleichberechtigt zusammen (jedenfalls dem Anspruch nach). Entwicklungsorganisationen sind dauerhafte Institutionen innerhalb einer Organisation. Sie sollen den Entwicklungsprozeß in Gang halten, immer wieder justieren, neue Ziele vereinbaren, sich mit Schwierigkeiten auseinandersetzen etc. (Palshaugen 2000, S. 237 – 255).

    Die auf Dialogkonferenzen eingeleitete Organisationsentwicklung (OE) ist das Gegenmodell zu allen Beratungsansätzen, bei denen Experten Entwicklungsprozesse von außen und nach festen Modellen entwerfen und steuern (so ist die Praxis der McKinsey Berater). Nach den Regeln der Dialogkonferenz und des demokratischen Dialogs kommt es darauf an, dass sich alle in einer Organisation Beschäftigten an der Konzipierung und Realisierung von Entwicklungsprozessen aktiv und mit ihren Arbeitserfahrungen beteiligen können. Sie verfügen über Kenntnisse und Erfahrungen, die bei der Veränderung ihrer Organisation unerlässlich sind. Ihre Beteiligung ist außerdem die Voraussetzung für eine demokratische Organisation von Entwicklungprozeß, Strukturveränderung und Innovation.

    3. Weitere mögliche Anwendungsgebiete des Konzepts der Dialogkonferenz

    Ich habe Dialogkonferenzen in verschiedenen Betrieben durchgeführt, aber auch in anderen Kontexten erlebt und mit gestaltet, sowohl in Seminaren mit den unterschiedlichsten Teilnehmern aus den verschiedensten Arbeitszusammenhängen (z.B. 1990 in russischen Betrieben) , auch mit Wissenschaftlern allein, z.B. in einem schwedischen Forschungsinstitut, das natürlich auch seine Hierarchie und seine Konflikte hatte. Gegenwärtig arbeite ich mit einer Vielzahl regionaler Akteure in einem Projekt zur Entwicklung selbst tragender regionaler Strukturen für die Integration von Migranten in den ersten Arbeitsmarkt.

    Das Konzept der Dialogkonferenz ist schließlich von isolierten Modellversuchen in einzelnen Organisationen (wie z.B. Unternehmen) auf die Planung und Ingangsetzung regionaler Entwicklungsprozesse unter Einschluß einer Vielzahl regionaler Akteure ausgeweitet worden. Mit dieser Erweiterung des Anwendungsfeldes werden heute in Skandinavien, vor allem in Schweden und Norwegen, Prozesse organisiert, die auf die Ingangsetzung und Unterstützung sozialer Entwicklungsprozesse zielen (Gustavsen 2003, S. 95).

    Obwohl ich bisher mit Gewerkschaftern keine Dialogkonferenzen veranstaltet habe, ist es m.E. lohnend und mit Modifikationen möglich, das Konzept auch in gewerkschaftlichen Zusammenhängen anzuwenden. Dabei schwebt mir ein Entwicklungsprozeß vor, der – getragen von einer Allianz aus Gewerkschaftern und Wissenschaftlern – zunächst in einem überschaubaren Feld beginnt und sich, wenn er gelingt, allmählich in weitere Felder der gewerkschaftlichen Organisation ausdehnt.

    Beim Vorhaben des Hattinger Kreises, einen dauerhaften Arbeitszusammenhang zwischen Gewerkschaftern und Wissenschaftlern des HK herzustellen, haben wir es mit 3 Gruppen zu tun:

    Hauptamtlichen GewerkschaftssekretärInnen und ihrem Stab (z.B. Ortsvereinsvorsitzende, Funktionsträger jeder Art); ob Bezirksleiter und höhere Funktionäre erreichbar sind, bezweifle ich, ist aber gegenwärtig auch nicht erforderlich

    Ehrenamtlichen Funktionären als Trägern der Organisation in verschiedenen Funktionen, wie z.B. Betriebsräte und Vertrauensleute

    Wissenschaftlern des Hattinger Kreises, gewerkschaftlichen Innovatoren und einfachen Mitgliedern der Gewerkschaften.

    Vertreter dieser drei Gruppen könnte man analog den skandinavischen Ansätzen in einer Dialogkonferenz wie folgt zusammenbringen:

    Hauptamtliche Funktionäre entsprächen dem TM

    Ehrenamtliche Funktionäre dem MM

    Wissenschaftler, Gewerkschaftsmitglieder und gewerkschaftliche Innovatoren den Beschäftigten

    Wenn der Hattinger Kreis in Zukunft eine solche Dialogkonferenz durchführen sollte (und wir haben das fest vor, falls die Voraussetzungen erfüllt sind, die ich abschließend noch nennen werde), dann ist Ziel der Dialogkonferenz nicht nur, mögliche Entwicklungsziele zu diskutieren (das wäre bloße Gewinnung von Erkenntnissen), sondern Ziel wäre die verbindliche Vereinbarung von gemeinsamen Aktionen und Verfahren zur schrittweisen Realisierung der vereinbarten Ziele in Richtung auf eine erneuerte Gewerkschaftsorganisation. Es geht also um Handlungsorientierung und um die Bildung von Allianzen zwischen Wissenschaftlern, haupt- und ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Funktionären und Mitgliedern, die die in innovativen Gewerkschaftsprojekten isoliert gewonnenen Erfahrungen in die Organisation vermitteln. Dabei muß von vornherein klargestellt werden, dass es sich um einen zeitaufwendigen, kleinschrittigen Prozeß handeln wird. Er wird in einem begrenzten Handlungsfeld im Rahmen der gewerkschaftlichen Organisation beginnen und sich – wenn er gelingt – allmählich weiter in der Organisation ausdehnen.

    4. Thematische Logik einer Dialogkonferenz

    1. Utopien sammeln: Wie sieht die Gewerkschaft aus, die ich mir wünsche? An dieser Stelle sollen die Schwierigkeiten, die Utopien zu realisieren, ausdrücklich nicht bedacht werden. Auch eine Analyse der Ausgangssituation sollte eher implizit, auf jeden Fall nur ganz kurz erfolgen: alle Teilnehmer kennen sie, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlicher Bewertung, aber diese Unterschiede treten im Verlauf des Seminars ohnehin zutage und sollten anfangs nur zusammengetragen, nicht diskutiert werden.

    2. Diskussion der Schwierigkeiten und Barrieren, die ins Auge gefassten Utopien zu realisieren. Zu unterscheiden sind

    Barrieren in der Organisation

    Schwierigkeiten der beteiligten Personen

    sowie mögliche Gründe für Schwierigkeiten, z B..

    Die traditionelle Rekrutierung und Ausbildung der Funktionäre

    Zurückbleiben der Organisation hinter der gesellschaftlichen Entwicklung, sichtbar an der aktuellen Mitgliederstruktur und am Mitgliederschwund

    Mangelnde Übereinstimmung zwischen gewerkschaftlichem Handeln/gewerkschaftlicher Kultur und den Erwartungen potentieller Mitglieder

    ........

    3. Diskussion von Möglichkeiten, die ins Auge gefassten Utopien (Entwicklungsmöglichkeiten) zu realisieren. Hierbei geht es darum, möglichst konkret Wege aufzuzeigen und zu diskutieren, wie die erkannten Hindernisse für einen Organisationswandel überwunden werden könnten. Im Prozeßablauf – wenn er denn in Gang kommen sollte -werden weitere Hindernisse auftreten, aber die können im Voraus nicht diskutiert werden.

    4. Schließlich und vor allem geht es um die Verabredung von Bündnissen und die verbindliche Vereinbarung von konkreten Handlungsschritten, wie im ausgewählten gewerkschaftlichen Kontext die vereinbarten Entwicklungsziele verwirklicht werden könnten.

    Dialogkonferenzen bieten die Möglichkeit, haupt- und ehrenamtliche Funktionäre, Wissenschaftler und Gewerkschaftsmitglieder an einem gemeinsam geführten Dialog zu beteiligen, der sich von der Entwicklung gewünschter Zustände (Utopien) bis zur Vereinbarung konkreter, gemeinsamer Handlungsschritte erstreckt.

    Diese Dialoge geben Gelegenheit,

    die je spezifischen Sichtweisen der drei Gruppen zusammenzuführen und eine komplexe Analyse sowohl der Ausgangssituation wie der erwünschten Veränderungen zu erstellen, auf die sich alle drei Gruppen einigen können

    sowie verbindliche, gemeinsame Handlungsschritte zu vereinbaren.

    Beides wird in einem Hattinger Seminar, wenn es nach dem Konzept der Dialogkonferenz strukturiert wird, nur ansatzweise möglich sein. Dennoch ist ein solches Seminar als Labor zu betrachten, das mit der Bildung von Aktionsgruppen enden kann, in denen haupt- und ehrenamtliche gewerkschaftliche Funktionäre, Wissenschaftler und Gewerkschaftsmitglieder zusammenarbeiten.

    Diese Aktionsgruppen könnten eine Art gewerkschaftlicher Entwicklungsorganisation werden, wenn sie über das Ende des Seminars (der Dialogkonferenz) hinaus weiter zusammenarbeiten. Sie müßten sich von Zeit zu Zeit treffen. Je tiefer sie in eine gewerkschaftliche Organisation eindringen und mit zunehmender Erfahrung könnten sie an Inhalt, Zusammenhalt und Teilnehmerzahl wachsen.

    5. Möglicher Seminarablauf

    Aus diesen Überlegungen folgt als möglicher Seminarablauf:

    Erste Runde: Utopien

    Haupt- und ehrenamtliche Gewerkschaftsfunktionäre, gewerkschaftliche Innovatoren und Gewerkschaftsmitglieder einschließlich Wissenschaftlern diskutieren in drei homogenen Gruppen mögliche Szenarien für eine erneuerte Gewerkschaftsorganisation: Wie stelle ich mir die Gewerkschaft der Zukunft vor?

    In dieser Runde bleiben die Schwierigkeiten/Barrieren ausdrücklich ausgeblendet

    Erstes Plenum

    Im Plenum stellen alle drei Gruppen ihre Vorstellungen anhand von Flipcharts oder Protokollen aus den Gruppen mündlich und schriftlich vor. Die Ergebnisse werden kurz diskutiert (kaum mehr als Verständnisfragen)

    Zweite Runde: Schwierigkeiten und Hindernisse

    Die drei Gruppen diskutieren in gleicher Zusammensetzung (also wiederum in homogenen Gruppen) die Utopieentwürfe der jeweils beiden anderen Gruppen, d.h.

    Hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre diskutieren die Hindernisse, die gegen die Utopien der Ehrenamtlichen und der Mitglieder/Wissenschaftler sprechen

    Ehrenamtliche Funktionäre diskutieren die Hindernisse und Schwierigkeiten, die bei der Realisierung der Utopieentwürfe der Hauptamtlichen und der Mitglieder/Wissenschaftler sprechen

    Gewerkschaftsmitglieder/Wissenschaftler stellen die Hindernisse zusammen, die bei der Verfolgung der Utopien der beiden anderen Gruppen zu erwarten sind.

    In allen drei Gruppen kann natürlich auch die Angemessenheit der Entwicklungsziele diskutiert werden.

    Die Ergebnisse der Diskussionen werden auf Flipcharts in Stichworten schriftlich festgehalten und auf dem

    Zweiten Plenum

    kurz vorgetragen und diskutiert.

    Dritte Runde: Vereinbarung von Handlungsstrategien und Aktionen

    Je nach Teilnehmerzahl werden 2 – 3 Gruppen gebildet, in denen Vertreter aller drei Gruppen (haupt- und ehrenamtliche Funktionäre und Mitglieder/Wissenschaftler) vertreten sein müssen. Diese gemischten Gruppen erarbeiten und diskutieren im Licht der Ergebnisse der ersten beiden Runden gemeinsame Handlungsschritte. Die Ergebnisse werden auf Flipchart schriftlich festgehalten.

    Im dritten Plenum werden diese Ergebnisse vorgetragen.

    Vierte Runde: Ausführliche Plenumsdiskussion

    Das vierte Plenum soll zu drei Vereinbarungen führen:

    (a) Vereinbarung weiterer konkreter Zusammenarbeit mit konkreten Handlungssequenzen auf der Grundlage gemeinsam getragener Entwürfe einer zukünftigen Gewerkschaftsorganisation

    (b) Bildung von Allianzen, bestehend aus Mitgliedern/Wissenschaftlern, sowie haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionären

    (c) Planung der weiteren Arbeit des Hattinger Kreises, insbesondere der Schaffung eines öffentlichen Forums zur Diskussion, Begleitung von Entwicklungsprozessen und zur Anregung weiterer Schritte zur gewerkschaftlichen Erneuerung.

    MERKE:

    Der HK kann eine Dialogkonferenz nur veranstalten, wenn sich

    1) eine oder mehrere organisatorische Gliederung(en) einer Gewerkschaft entschließt, einen OE Prozeß durchzuführen; das können eine Ortsverwaltung, mehrere Ortsverwaltungen in einer Region, evtl auch ein Bezirk oder auch mehrere Ortsverwaltungen in verschiedenen Regionen parallel sein

    2) eine ausreichende Zahl von Gewerkschaftsfunktionären in einer gewerkschaftlichen Gliederung zur aktiven Teilnahme bereit ist

    3) eine Gruppe von ca 4-6 auch jüngeren WissenschaftlerInnen aus dem HK erklärt, verbindlich und dauerhaft für die Begleitung eines zukünftigen OE Prozesses in einer oder mehreren gewerkschaftlichen Gliederung(en) zur Verfügung zu stehen.

    6. Zur Vermeidung von Missverständnissen eine Nachbemerkung:

    1. Es handelt sich bei meinem Vorschlag nicht um den Versuch, eine weitere Zukunftskonferenz zu veranstalten. Die Frage nach der zukünftigen Organisation der Gewerkschaften ist daher auch nicht der thematische Fokus, sondern lediglich die Eingangsfrage zur ersten Gruppenarbeit auf der Konferenz.

    Es geht keineswegs um eine weitere Zukunftskonferenz, sondern um den Versuch, einen konkreten Prozeß zur Veränderung der gewerkschaftlichen Organisation einzuleiten. Darin liegt die Differenz zu bisherigen Diskussionen des Hattinger Kreises, zugleich auch die Brisanz des vorgeschlagenen Vorhabens.

    2. Es geht auch nicht um ein weiteres Modellprojekt, sondern um den Versuch, einen Entwicklungsprozeß einzuleiten, der im Zeitablauf – wenn er nicht versiegt – die Chance eröffnet, weitere Felder der gewerkschaftlichen Organisation zu erfassen.

    3. Entscheidend ist auch, wie sich der zunächst nicht beteiligte Rest der Organisation zu einem solchen Vorhaben verhält. Mein Vorschlag zielt darauf ab, dies nicht vorab festzustellen, sondern in einem Handlungsversuch zu erkunden. Die Reaktion der Organisation wird ohne Zweifel erfolgen. Damit sie nicht von vornherein negativ ausfällt, habe ich vorgeschlagen, zunächst in einem begrenzten gewerkschaftlichen Feld (z.B. einer Verwaltungsstelle) zu beginnen – allerdings auf eine Art, die von Anfang an auf die Ausweitung des Prozesses auf weitere Bereiche der Gewerkschaften zielt.

    Allerdings ist es sinnvoll und notwendig, dass ein auf einer Dialogkonferenz konzipierter und verbindlich vereinbarter Entwicklungsprozeß von übergeordneten Ebenen der Organisation gebilligt und unterstützt wird. Welche Ebene sie dafür gewinnen will, entscheidet die beteiligte gewerkschaftliche Gliederung. Da es sich um offene Prozesse handelt, geht es allerdings nicht darum, das Ziel des OE Prozesses festzulegen. Vielmehr kommt es darauf an, dass etwa die Bezirksleitung dem Entwicklungsprozess in einer Ortsverwaltung für einen ausreichenden Zeitraum einen Freiraum garantiert, in dem neue Initiativen zur Veränderung der Organisation entstehen und verwirklicht werden können.

    Literatur:

    Björn Gustavsen (1992) „Dialog und Entwicklung. Kommunikationstheorie, Aktionsforschung und Strukturreformen in der Arbeitswelt“, Berlin (sigma)

    Björn Gustavsen (2003) „Action Research and the problem of the single case” in: Concepts and Transformation. International Journal for Action Research and Organizational Renewal, vol. 8, No. 1, Seite 93 – 99

    Oyvind Palshaugen (2000) „The Competitive Advantage of Development Organizations“ in: Concepts and Transformation. International Fournal for Action Research and Organizational Renewal, vol 5 (2), S. 237 – 255.

    7. Anmerkungen zur Diskussion in Wremen, insbesondere zur Rolle der Wissenschaftler:

    In Wremen wurden vier Arbeitsgruppen gebildet, in denen die etwa 30 TeilnehmerInnen eine engagierte und fruchtbare Diskussion führten. Für die Diskussion der Arbeitsgruppen habe ich folgende Fragen formuliert:

    1) Wie beurteilt Ihr das Konzept der Dialogkonferenz im Hinblick auf gewerkschaftliche Organisationsentwicklung?

    2) Unter welchen Voraussetzungen, glaubt Ihr, lassen sich Dialogkonferenzen im gewerkschaftlichen Kontext verwenden?

    Insbesondere:

    - welche Widerstände sind zu überwinden?

    - Welche Voraussetzungen sind zu schaffen?

    - Von wem?

    Ein wichtiges Thema in den Arbeitsgruppen war die Rolle der Wissenschaftler. Das ist nach den vielen Enttäuschungen auf beiden Seiten, mit denen die Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftern in der Vergangenheit häufig endete, nur allzu verständlich.

    Ich habe die in den Plenumsberichten der Arbeitsgruppen aufgeworfenen Fragen zum Anlass genommen, die Rolle der Wissenschaftler des Hattinger Kreises in einem gewerkschaftlichen Organisationsentwicklungsprozess aus meiner Sicht wie folgt zu präzisieren:

    1. Die Mitarbeit der Wissenschaftler ist dauerhaft und verbindlich. Das heißt vor allem: Wissenschaftler befassen sich nicht nur am Anfang mit dem OE Prozess (etwa durch Organisation und Moderation einer Dialogkonferenz) und „verschwinden dann wieder“, sondern sie begleiten den Prozess während der gesamten Dauer.

    2. Wissenschaftler sind keine externen Experten, die mit fertigen Lösungen anreisen. Sie bringen ihre Erfahrungen, Vorschläge und Reflexionen in den Prozess ein und stellen sie zur Diskussion. In diesen Diskussionen sind sie nach den Regeln des demokratischen Dialogs gleichberechtigte Partner; sie beanspruchen nicht, den Prozess zu dominieren oder allein zu steuern.

    3. Für den Erfolg des OE Prozesses in einer gewerkschaftlichen Gliederung ist die Gewährung eines Freiraums durch übergeordnete Einheiten der Organisation notwendig. Die beteiligte gewerkschaftliche Gliederung muss die Zustimmung der zuständigen Stellen in der Organisation erwirken, dabei aber darauf achten, dass nicht Entwicklungsziele festgelegt werden, sondern ein Handlungsfreiraum für eine angemessene Zeitspanne zugesichert wird.

    4. Die Durchführung vereinbarter Entwicklungsschritte im Rahmen des gewährten Freiraums ist Sache der Organisationsmitglieder, d.h. der beteiligten haupt- und ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Funktionäre und Mitglieder.

    5. Wissenschaftler sind für Ablauf und Ergebnisse des OE Prozesses mit verantwortlich, zugleich aber unabhängig. Sie werden nur in dem Maße tätig, in dem es von den beteiligten Gewerkschaftskollegen gewünscht wird, sind aber keine Auftragnehmer einer Gewerkschaft oder gewerkschaftlichen Gliederung. Sie werden daher Anforderungen der Gewerkschaft nur in dem Maße entsprechen, in dem sie es für möglich und für vertretbar halten.

    6. Wissenschaftler schaffen im Prozessablauf Möglichkeiten zu gemeinsamer Reflexion, die allen beteiligten Akteuren offen stehen. Dies geschieht u.a. auf weiteren Dialogkonferenzen, die zur Bilanzierung und Feinsteuerung des Entwicklungsprozesses notwendig sind. Aus dieser Funktion erwächst den Wissenschaftlern Mitverantwortung für den OE Prozess, der sie sich zu stellen haben.

    7. Wissenschaftler müssen am Ende eines erfolgreichen OE Prozesses überflüssig geworden sein. Das ist spätestens dann der Fall, wenn die organisatorischen Innovationen zu Routinehandeln der teilnehmenden Gliederung geworden sind, zu Veränderungen der Organisationsstruktur geführt haben und möglichst in andere Gliederungen der Organisation weiterwirken. Die wichtigste Aufgabe der Wissenschaftler ist es, die teilnehmenden Gewerkschaftsakteure zu ständiger Selbstreflexion ihres Handelns zu befähigen, insbesondere durch das Einüben und gemeinsame Erlernen demokratischer Dialoge auf allen und für alle hierarchischen Ebenen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten wurden auf dem Wremer Workshop ebenfalls ausführlich diskutiert. Ich halte sie für tief verwurzelt, aber keinesfalls für unüberwindlich, wenn es gelingt, die Voraussetzungen für gemeinsame Lernprozesse zu schaffen und dauerhaft aufrecht zu erhalten.