Institut für Politikwissenschaft

 

 

Gegenrede von Prof. Dr. Jürgen Hoffmann, Hamburg

(zum „Hamburger Appell“ Hamburger und deutscher Ökonomen)

1. In einem „Hamburger Appell" haben Hochschullehrer des Departments Wirtschaftswissenschaften der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg einen
erschreckenden Mangel an „ökonomischem Sachverstand“ in der aktuellen, vom Vorwahlkampf
geprägten politischen Debatte beklagt. In dem Appell, der in den gegenwärtig anlaufenden
Wahlkampf argumentativ eingreifen soll, wird Deutschland einer ökonomischen Analyse unterzogen
und eine Wirtschaftspolitik vorgestellt, die sich auf den seit Jahrzehnten hegemonialen
Diskurs der Neoklassik und des Neoliberalismus beruft und auf die aktuelle wirtschaftspolitische
Debatte fokussiert. Diesem Appell haben sich inzwischen über 240 Hochschullehrer der
Volkswirtschaft aus der gesamten Bundesrepublik angeschlossen – die „Crème de la Crème“ der
deutschen Volkswirtschaftslehre. In dem Appell, so kann wohl behauptet werden, ist also zu
einem großen Teil der wissenschaftliche Sachverstand, über den unser Land zur Zeit verfügt,
zumindest aber die „herrschende Lehre“, versammelt. Im Unterschied zur deutschen Industrie,
die international aufgrund ihrer Wettbewerbsstärke absolute Spitze ist, bewegen sich freilich die
wissenschaftlichen Argumentationen im Hamburger Appell auf einem international eher dürftigen
Niveau.

2. Die Autoren des Appells sehen den Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche nicht in der Nachfrageseite, die sich einer nachhaltigen Steuerung entziehen
würde, sondern in den zu hohen Arbeitskosten, den Lohnersatzleistungen und den zu hohen
Steuerlasten, die die Wirtschaft tragen müsse. All dieses mindere die unternehmerischen Gewinne
und die Investitionsbereitschaft. Strikteste Lohndisziplin, Absenkung der Löhne für Geringqualifizierte,
verlängerte Arbeitszeiten, verminderte Urlaubsansprüche und höhere Leistungsbereitschaft
seien vonnöten; jede Ausdehnung der Staatsverschuldung würde die Binnenkonjunktur
schwächen, die Finanzpolitik müsse daher streng stabilitätsorientiert sein. Der Appell
empfiehlt daher den Marsch in eine Niedriglohnökonomie, mit der die deutsche Wirtschaft
aber keine Chance auf dem Weltmarkt haben würde. Zugleich werden die charakteristischen
sozialen Institutionen der diversifizierten Qualitätsproduktion in Deutschland leichtfertig auf
dem Altar längst überkommener neoklassischer Modelle geopfert. Statt die Stärken des „Modells
Deutschlands“ gegen die Hegemonie der „shareholder value“- Logik des Finanzkapitals zu
verteidigen und zu festigen, wird der Ast abgesägt, auf dem der „Exportweltmeister“ Deutschland
(noch) sitzt und der das deutsche Sozialmodell und die relativ hohe gesellschaftliche Kohäsion
in der Bundesrepublik bislang getragen hat.
3. Fraglos, und dazu gehört wenig Sachverstand, verweisen die Autoren zu Recht auf einige
zentrale Schwachstellen des deutschen ökonomischen Modells und dessen Positionierung in der
globalen Ökonomie. Die Analyse dieser Beobachtungen wie auch die aus ihr abgeleiteten wirtschaftspolitischen
Schlussfolgerungen bauen dabei auf altbekannten und hinlänglich kritisierten
Konzepten der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie auf. Die Tatsache, dass diese Konzepte gescheitert
sind, bringt die Anhänger dieser Theorie nicht aus der Fassung. Sie verweisen in der
Regel darauf, dass die empfohlenen Konzepte ja nirgendwo konsequent umgesetzt wurden und
dass ein Urteil doch erst erlaubt sei, wenn wirklich die Märkte zu ihrem Recht gekommen sind,
die Wirtschaft dereguliert und entbürokratisiert ist und die Arbeitskosten auf einem profitverträglichen
Niveau sind. (Dies wird zwar von den Autoren in ihrem Appell nicht explizit behauptet,
ergibt sich allerdings aus dem von ihnen zugrunde gelegten wissenschaftlichen Diskurs.) All
dies wäre ja als das bekannte Rauschen im akademischen Wald hinzunehmen, wenn die Appellanten
sich nicht anmaßen würden, gleichsam aus dem Topf der Weisheit zu schöpfen und ihre
Ideologie als abgesicherte wirtschaftswissenschaftliche Urteile abzugeben. Wie anders und unbekümmerter
verlaufen da die akademisch angeleiteten wirtschaftspolitischen Debatten in unseren
Nachbarländern und vor allem auch in den USA, wo es sich die Universitäten schon aus
wohl verstandenem Eigeninteresse noch leisten, einen Mix aus orthodoxen und heterodoxen Ökonomen
zu beschäftigen.

4. Die Autoren widmen sich mit Nachdruck der Aufgabe, die Rolle der gesamtwirtschaftlichen
Nachfrage für das Wachstum klein zu reden. Sie verweisen mit Recht darauf, dass die
„komplex strukturierte Größe der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage“ simpel konstruierte
Kaufkrafttheorien des Lohns wie auch Formen eines „Hydraulik - Keynesianismus“ der Staatsnachfrage
als wirtschaftspolitische Antworten verbietet. Aus dieser Feststellung folgt allerdings
noch lange nicht, wie dies die Autoren unvermittelt behaupten, dass ein Eingriff „zugunsten
einer bestimmten Form der Nachfrage“ die Struktur der Nachfrage „stört“ und diese letztlich
nicht oder jedenfalls nur geringfügig erhöht. Diese zentrale Hypothese setzt nämlich voraus,
dass ein solcher „Eingriff“ das Niveau der gesamtwirtschaftlichen monetär wirksamen Nachfrage
nicht verändert, sondern nur umverteilt. Nachfragepolitik ist aber kein Nullsummenspiel,
wie dies die von den Autoren instrumentalisierte Hypothese rationaler Erwartungen nahe legt.
Die Autoren unterstellen in ihrer Argumentation, dass Gewinneinkommen grundsätzlich wieder
investiv verwendet würden – so als ob nicht gerade Gewinne in einem hohen Maße anderen als
investiven Verwendungen zugeführt werden könnten Tatsächlich durchzieht den ganzen „Appell“
die vollständige Ignoranz gegenüber dem tief greifenden Strukturwandel des modernen
Kapitalismus in Richtung eines von der Logik des Finanzkapitals vorangetriebenen Wirtschaftsmechanismus.

5. So simpel und richtig wie es ist, dass die Nachfrage nach deutschen Waren und Dienstleistungen,
wie argumentiert wird, durch Qualität, Innovativität und „nicht zuletzt durch deren
Preis“ geprägt wird, so falsch ist die in diesem Satz ausgedrückte Gewichtung: Der „Exportweltmeister
Deutschland“ wird international vor allem durch „non-price-competition" aufgrund
der Trias von „high quality-high qualification-high wage" in der Produktion charakterisiert.
Das „Hochlohnland Deutschland“ ist arbeits- und qualifikationspolitisch Voraussetzung und verteilungsseitig zugleich die Folge des Status eines „Exportweltmeisters“.

6. Die Komplexität, die die Autoren der Struktur der Nachfrageseite in ihrem Appell zugestehen,
wird von den Autoren aber der Angebotsseite nicht zugebilligt. Diese wird vielmehr von
den Arbeitskosten dominiert, die „ein Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche“
sind. Und hier gilt die Schlichtversion der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie: die
hohe Arbeitslosigkeit besonders der gering qualifizierten Arbeitskräfte wird auf die zu hohen
Löhne, auf die zu niedrige Spreizung der Löhne nach unten und auf die Lohnersatzleistungen
des Sozialstaats, die zu „zu hohen“ Lohnansprüchen führten, zurück geführt. Tatsächlich ist
auch und gerade der Arbeitsmarkt eine “bedeutende und komplex strukturierte Größe“, faktisch
sogar der komplizierteste Markt überhaupt. Allein die Tatsache der Segmentierung der
Arbeitsmärkte (unterschiedliche Qualifikationen, Produktionssysteme, Branchen, Regionen etc.)
spricht gegen das marginalistische Arbeitsmarktmodell, bei dem Arbeitskräfte wie auch Arbeitskraftnachfrager
sich wie Automaten verhalten. Wie wenig aussagekräftig dieser Ansatz ist,
zeigt sich empirisch in der Tatsache, dass in vielen Regionen in Ostdeutschland die Niedriglöhne
weit unter Tarifniveau liegen, ohne dass hier irgendwelche positiven Beschäftigungseffekte zu
sehen sind, während in Regionen wie dem Großraum Stuttgart Höchstlöhne bei gleichzeitig hohem
Beschäftigungsstand gezahlt werden. Und diese hohen Löhne kombiniert mit einer hohen
Arbeitsproduktivität ergeben keineswegs „zu hohe“, sondern eher unterdurchschnittliche Lohnstückkosten
im internationalen Vergleich, sie werden zudem von den Unternehmen als fixe Größen
kalkuliert, denn dahinter steht jene Qualifikation, ohne die die exportorientierte Qualitätsproduktion
gar nicht möglich wäre. Dies gilt auch für den unternehmensnahen Dienstleistungssektor.

7. Das von den Autoren vorgetragene Argument nach „striktester Lohndisziplin“ ist zwar
populär, nichtsdestotrotz aber in seiner Allgemeinheit von eher schlichter intellektueller Natur.
Man muss sehr einäugig die ökonomische Realität betrachten, wenn man angesichts einer jahrzehntelangen
Reallohnstagnation bei gleichzeitiger Gewinnexplosion in den letzten Jahren die
Forderung nach höheren Löhnen als „Klassenkampfrhetorik“ bezeichnet und Lohndisziplin als
Gebot der Stunde erachtet: Die durchschnittlichen Nettoreallöhne haben mittlerweile in Gesamtdeutschland
das westdeutsche Niveau des Jahres 1978 wieder erreicht. Man muss auch kei
non – price - competition“ aufgrundhigh quality – high qualification – high wage“ in der Produktion charakterisiert.ist arbeits- und qualifikationspolitisch Voraussetzung3
ne Kaufkrafttheorie des Lohns bemühen, um völlig systemimmanent zumindest produktivitätsorientierte
Reallohnerhöhungen fordern zu können – im westeuropäischen Durchschnitt und
auch im Vergleich zu den USA sind die deutschen Reallöhne zurück gefallen und die Nachbarökonomien
(und Gewerkschaften) stöhnen unter dem Wettbewerbsdruck, der von der deutschen
Ökonomie im europäischen Binnenmarkt ausgeht. Dass durch eine produktivitätsorientierte
Lohnpolitik in der gegenwärtigen Situation auch die „komplexe“ Nachfrageseite des Binnenmarkts
stabilisiert werden würde, müsste sich selbst den Anhängern der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie
erschließen.
8. Wenn die Autoren in ihrem Appell gegen ein hochgradig reguliertes Hochlohnland
Deutschland polemisieren, dann plädieren sie offensichtlich für eine Niedriglohnökonomie, in
der in deregulierten Niedriglohnarbeitsmärkten standardisierte Massenproduktion („screw driver manufacturing) hergestellt wird und eine "low road" der Dienstleistungsgesellschaft 
(„Dienstbotengesellschaft“) dominiert. Beides – Qualitätsproduktion und Niedriglohnökonomie –
ist nämlich nicht zusammen zu haben! Mit ihrer Strategie wird dem „Exportweltmeister
Deutschland“ aber der Boden unter den Füßen weggezogen! Denn dadurch gehen zugleich jene
sozialen Institutionen verloren, die eine langfristig ausgelegte „diversifizierte Qualitätsproduktion“
immer noch ermöglichen (regulierte Arbeitsmärkte bei hoher interner Flexibilität, Kooperation
und Mitbestimmung in und Koordinationsinstitutionen zwischen den Unternehmen, nicht
zuletzt der Kündigungsschutz, der die Arbeitnehmer und Unternehmen dazu bringt, sich auf
innerbetriebliche Qualifizierung einzulassen bzw. in die Qualifikation der Arbeitskraft zu investieren,
weil er Abwanderungsmöglichkeiten – „poaching" - mindert.Die aus traditionell neoklassischer            
Sicht immer wieder als Beschäftigungsschranke angeprangerten, als hochgradig
reguliert bezeichneten Arbeitsmärkte sind in der Industrie eine unabdingbare Voraussetzung
für die hohe unternehmensinterne (!) Flexibilität der qualifizierten Arbeitskräfte und damit ein
Eckpfeiler der industriellen Qualitätsproduktion und des Exporterfolgs in globalisierten Märkten,
der gerade in Deutschland exorbitante Gewinne möglich macht.
9. Diese sozialen Institutionen – so eine zentrale Botschaft der internationalen wissenschaftlichen
Diskussion zu den „varieties of capitalism"- sind leicht zu verlieren, aber schwer wieder
herzustellen! Vor allem können soziale Institutionen als Voraussetzung erfolgreicher Produktion
nicht einfach kopiert und importiert werden: der Verweis auf Großbritannien und Irland
(an anderer Stelle wird auch Singapur gerne benutzt) ist aufgrund der dort vorherrschenden
völlig anderen sozialen Systeme der Produktion und der Branchenstrukturen genauso unsinnig
wie umgekehrt der Verweis auf Schweden und Dänemark von der keynesianischen Gegenseite.
Als Niedriglohnökonomie hat die deutsche Wirtschaft keine Chance auf den Weltmärkten
– der aktuelle Zusammenbruch der US-amerikanischen industriellen Niedriglohnbranchen
(minus drei Mio. Arbeitsplätze 1998 – 2005) ist warnendes Beispiel genug! Und wie lange in
Großbritannien, das eine ähnliche Struktur und daher auch ähnliche Probleme aufweist, und in
den USA der Dienstleistungssektor den Niedergang der Industrie noch auffangen kann, ist
durchaus fraglich, zumal in beiden Ländern die tatsächlichen Arbeitslosenraten hoch – wenn
man z.B. in Großbritannien die Arbeitsunfähigen hinzurechnet – und die Armutsquoten in diesen
Ländern allemal weit höher als in der Bundesrepublik sind.
10. Keine Frage: das Problem der niedrig qualifizierten Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt
bedarf dringend einer Lösung. Aber eben das tut auch nicht oder nicht allein der Übergang zu
Lohnzuschüssen an Stelle von Lohnersatzleistungen – weil es in vielen Regionen (wie in Ostdeutschland)
und Arbeitsmarktsegmenten auch zu niedrigsten Lohnkosten keine Arbeit gibt.
Und das gewerkschaftliche Argument, dass Lohnzuschüsse Mitnahmeeffekte seitens der Unternehmen
möglich machen, ist zudem nicht von der Hand zu weisen. Neben staatlichen Investitionen
in die Infrastruktur (s.u.), die das Niveau der Nachfrage stabilisieren und erhöhen kann, ist
hier eine Qualifizierungsoffensive von Staat und Verbänden notwendig – denn die Auslagerung
von standardisierbaren Niedrigqualifikationsarbeitsplätzen im Zuge der Re - Allokation der
Produktion im Europäischen Binnenmarkt wird sich fortsetzen bei gleichzeitig erhöhtem Bedarf
an qualifizierten Arbeitskräften. Deshalb ist der Übergang zu stärker steuerfinanzierten Systemen
der sozialen Sicherung einzuleiten, welche die Arbeitskosten in Form von Lohnnebenkosten
besonders für die arbeitsintensiven kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) entlasten könnten.
11. Überhaupt müssten aus unserer Sicht die sozialstaatlichen Sicherungssysteme stärker
von ihrer bisherigen Erwerbsorientierung entkoppelt werden, nicht zuletzt, um mehr soziale
Sicherheit in den gegenüber der Industrie sehr viel flexibleren und diskontinuierlicheren Arbeitsmärkten
im Dienstleistungssektor zu gewährleisten und dort eine nachhaltige Kreativität ermöglichen. Die mangelnde Mobilisierung des Dienstleistungssektors ist neben den Folgen der
verfehlten, allein am Markt orientierten Politik der Vereinigung eine wesentliche Ursache für
die Arbeitsmarktmisere in Deutschland. Sie mit einer Strategie der Niedriglohnökonomie zu
beantworten hieße, auf die Entwicklung eines qualifizierten und nachhaltigen Dienstleistungssektors
(die „high road“ – Option) zugunsten einer „Dienstbotengesellschaft“ zu verzichten.
12. All dies muss zusammen mit der dringlich notwendigen signifikanten Erhöhung der Ausgaben
für Forschung und Entwicklung, Wissenschaft und Bildung durch Steuern finanziert werden,
will man nicht eine weiter wachsende Staatsverschuldung in Kauf nehmen. Beides – Steuerund/
oder Kreditfinanzierung – würde aber nach Meinung der Autoren dazu führen, dass strukturelle
Ungleichgewichte verschärft und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen – in
Erwartung höherer Steuerbelastungen – sich weiter verringerten. Deshalb sei strikte Haushaltsdisziplin
und eine Verringerung der Steuerlasten angesagt. Mit keinem Wort wird auf die
außergewöhnliche Belastung des deutschen Haushalts durch die verfehlte Vereinigungspolitik
unter Helmut Kohl und Theo Waigel (und seinem Staatssekretär Horst Köhler) eingegangen,
und auch die entgegen der Modelltheorie konjunkturell wirkungslose, aber gesellschaftlich desaströse
Steuersenkungspolitik Hans Eichels bleibt unerwähnt. Während die konjunkturellen
Impulse der massiven Steuersenkungen durch alternative Verwendung der Gewinne nach Steuern
verpuffen, verrottet zugleich die kommunale Infrastruktur und schwindet die soziale Kohäsion
in Folge der Sparpolitiken immer mehr – beides wiederum macht auf Dauer den Standort
Deutschland auch ökonomisch unattraktiv und leitet so einen Teufelskreis nach unten ein. Dagegen
sind die Behauptungen der Autoren wahrhaft heroisch: Jede (!) Ausdehnung der Staatsverschuldung
schwächt die Binnenkonjunktur. Das muss sich wohl nur auf das „alte Europa“
beziehen, beobachten wir doch zur Zeit in den USA eine beachtliche Ausdehnung der absoluten
Staatsverschuldung bei einem gleichzeitig starken, binnenmarktorientiertem Wachstum der
Wirtschaft, das zu einer niedrigeren Defizitquote des staatlichen Haushaltes als in Deutschland
führt.
13. Das bloße Vertrauen in die passiven automatischen Stabilisatoren reicht zur Überwindung
der deutschen Wachstumskrise nicht aus. Eine begrenzte Ausweitung des Staatsdefizits
zum Zwecke der Investition in die fällige Reparatur und den Ausbau der materiellen und immateriellen
Infrastruktur dürfte in der gegenwärtigen Konjunkturlage bei einer relativ niedrigen
Inflationsrate weder „Ungleichgewichte“ verschärfen noch eine „gesteigerte Vorsicht zu wirtschaften“
provozieren: Zur Zeit gilt es vielmehr einer deflationären Spirale nach unten entgegen
zu wirken und unabdingbar notwendige öffentliche Investitionen zu tätigen, deren Aussetzen die
zukünftige Investitionsneigung in der Tat erheblich einschränken dürften. Die ideologiegetriebene
Argumentation im “Hamburger Appell“ stellt die tatsächlichen ökonomischen Probleme
geradewegs auf den Kopf! Die aktuelle Finanzpolitik hat kein Ausgaben-, sondern ein selbst
gemachtes Einnahmeproblem, das ihr die neoklassischen Ratgeber einer Steuersenkungspolitik
eingebrockt haben. Von den Steuerzahlern, die leicht vergesslich sind, werden diese Steuergeschenke
noch nicht einmal im Wahlverhalten honoriert. Deutschland hat zur Zeit die niedrigste
Steuerlastquote in seiner Geschichte, liegt in der Steuer- und Abgabenbelastung im Mittelfeld in
der EU (weit hinter den skandinavischen Ländern), von der effektiven Steuerbelastung der Unternehmen
ganz zu schweigen! Und dies alles trotz der erheblichen Belastung durch die deutsche
Einheit. Während aber nach den Daten der Bundesbank die Gewinne deutscher Unternehmen
vor und nach Steuerabzug steigen, die der Kapitalgesellschaften geradezu explodieren, sinken
zugleich die Nettoinvestitionen! Der angebotstheoretisch unterstellte Mechanismus ist offensichtlich
ausgehebelt, aber die Autoren des Appells halten eisern an ihm fest getreu der Devise „das
nicht sein kann was nicht sein darf“!
14. Die Realitätsblindheit der Autoren wird auch darin deutlich, dass im Appell weder die
restriktive Politik der Europäischen Zentralbank (man vergleiche dagegen die expansive Politik
der FÉD in den USA!) noch der dramatische Wechsel in der corporate governance Kultur der Unternehmen in Richtung auf eine  "shareholder value“ – Logik des Wirtschaftens Eingang findet. 
Letztere hat – wie oben angedeutet – den in der Lehrbuchweisheit unterstellten Zusammenhang
von Gewinnen, Investitionen und Arbeitsplätzen längst außer Kraft gesetzt und bedroht
das gesellschaftlich erfolgreiche Modell des langfristig-kooperativ ausgelegten „Rheinischen
Kapitalismus“. Dass deutsche Ökonomen diese Tendenz nur als Garant für mehr Markteffizienz
erkennen und darin den Motor für Wachstum und Wohlfahrtsgewinn zu sehen glauben,
nicht aber die Aufkündigung des ökonomisch wie gesellschaftlich erfolgreichen kontinentaleuropäischen
Sozialmodells, zeigt, wie sehr sie in ihrer engen ökonomietheoretischen Monade
eingefangen sind. Dort könnten sie auch ohne Schaden bleiben, wenn sie nicht seit Jahren meinten,
die Politik mit ihrem Modellplatonismus beglücken zu müssen. So haben sie selbst mit ihrem
„ökonomischen Sachverstand“ aktiven Anteil an der Auflösung der sozialen Kohäsion und
an der Verarmung in der Gesellschaft – bei gleichzeitig nie gekanntem Reichtum! Es ist also
nicht zuletzt der traurige Zustand der einstmals so lebendigen und innovativen deutschen Wirtschaftswissenschaften,
der für die von geringer empirischer wie analytischer Kenntnis zeugende
öffentlichen Debatte um adäquate wirtschaftspolitische Strategien verantwortlich zeichnet.
HATTINGER KREIS
Verantwortlich federführend:
Prof. Dr. Jürgen Hoffmann
Universität Hamburg
Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Department Wirtschaft und Politik


Kurzfassung
Die Autoren des Hamburger Appells sehen den Schlüssel zur Überwindung der deutschen
Wachstumsschwäche nicht in der Nachfrageseite, die sich einer nachhaltigen Steuerung entziehen
würde, sondern in den zu hohen Arbeitskosten, den Lohnersatzleistungen und den zu hohen
Steuerlasten, die die Wirtschaft tragen müsse. All dieses mindere die unternehmerischen Gewinne
und die Investitionsbereitschaft. Strikteste Lohndisziplin, Absenkung der Löhne für Geringqualifizierte,
verlängerte Arbeitszeiten, verminderte Urlaubsansprüche und höhere Leistungsbereitschaft
seien vonnöten; jede Ausdehnung der Staatsverschuldung würde die Binnenkonjunktur
schwächen, die Finanzpolitik müsse daher streng stabilitätsorientiert sein. Die Analyse
der Beobachtungen der Autoren wie auch die aus ihr abgeleiteten wirtschaftspolitischen
Schlussfolgerungen bauen auf altbekannten und hinlänglich kritisierten Konzepten der Allgemeinen
Gleichgewichtstheorie auf. Die Tatsache, dass diese Konzepte gescheitert sind, bringt die
Anhänger dieser Theorie nicht aus der Fassung. Sie verweisen darauf, dass die empfohlenen
Konzepte ja nirgendwo konsequent umgesetzt wurden und dass ein Urteil doch erst erlaubt sei,
wenn wirklich die Märkte zu ihrem Recht gekommen sind, die Wirtschaft dereguliert und entbürokratisiert
ist und die Arbeitskosten auf einem profitverträglichen Niveau sind, Der Appell
empfiehlt nichts anderes als den geraden Marsch in eine Niedriglohnökonomie, mit der die deutsche
Wirtschaft aber keine Chance auf dem Weltmarkt haben würde. Zugleich werden die charakteristischen
sozialen Institutionen der diversifizierten Qualitätsproduktion in Deutschland,
die ihre Wettbewerbsstärke auf dem Weltmarkt ausmachen, leichtfertig auf dem Altar dieser
längst überkommenen neoklassischen Modelle geopfert. Statt die Stärken des „Modells Deutschlands“
gegen die Hegemonie der „shareholder value“- Logik des Finanzkapitals zu verteidigen
und zu festigen, wird der Ast abgesägt, auf dem der „Exportweltmeister“ Deutschland (noch)
sitzt und der das deutsche Sozialmodell und die relativ hohe gesellschaftliche Kohäsion in der
Bundesrepublik bislang getragen hat.