Institut für Politikwissenschaft

Texte und Folienvorträge des Workshops vom 27./28.9.2007:

"Neue Formen von Konkurrenz als Herausforderung für  gewerkschaftliche Solidarität"

(Das ausführliche Protokoll des Workshops findet sich unter der Rubrik "Protokolle")



Ulrich Mückenberger

Protektionismus wider Willen?

<<<Erste Fassung - Bitte nicht zitieren – wohl aber kommentieren zur Verbesserung für die Internationale Konferenz>>>

 

In dem „Manifesto for Social Europe“ von 2001 (Bercusson et al., 2001) haben wir folgenden Absatz formuliert:

„Globale Wirtschaft – globale Solidarität

Die WTO-Konferenz 1999 in Seattle  hat deutlich gemacht, dass ein soziales Europa eine globale Dimension beinhalten muss. Es ist nicht allein die gemeinsame Agrarpolitik, die sich auf weniger entwickelte Regionen der Welt auswirken kann, sondern auch die Sozialpolitik Europas. Soziale Rechte sind universelle Rechte. Ihre Durchsetzung in den ärmsten Ländern der Welt allerdings verpflichtet die EU zur Solidarität. Wenn die EU erwartet, dass arme Länder universelle Normen achten, muss sie bereit sein, die Kosten zu übernehmen, die diese Länder weniger leicht tragen können. Alles andere wäre reiner Zynismus.

Ein soziales Europa muss Instrumente und Maßnahmen entwickeln und durchführen, um ärmere Länder in den Stand zu versetzen, soziale Normen zu verabschieden und anzuwenden.“

Die Aussage war bereits im europäischen Gewerkschaftsbund, dessen Institut (EGI) das „Manifesto“ herausgab, stark umstritten. Auch heute noch provozieren Formulierungen dieser Art – gerade solche Menschenrechtler und Gewerkschafter, die für sich die Haltung kosmopolitischer Solidarität in Anspruch nehmen. Kann es „zynisch“ sein, in allen Erdteilen dieser Welt die Einhaltung universeller kultureller, sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Rechte einzufordern? Muss nicht z. B. das Verbot von Kinderarbeit, muss nicht generell die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen von 1998[1] ohne Wenn und Aber gelten? Kann man internationalen NGO’s Zynismus vorwerfen, die sich für die weltweite Einhaltung und Durchsetzung solcher universellen Normen gegen starke Widerstände einsetzen?

Bekannt ist das Beispiel der Kinderarbeit. In mehreren Entwicklungs- und Schwellenländern ist Kinderarbeit fest in die familiale und gesellschaftliche Reproduktion eingebaut. Entfällt sie, vergrößert sich die Armut – u. U. für die Kinder selbst. In Indien wurde jüngst die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren (auch in fremden Haushalten und Restaurants) erneut verboten – nachdem das exakt vor 20 Jahren erlassene Kinderarbeitsverbot wirkungslos geblieben war. Schätzungsweise zwanzig Millionen Kinder arbeiten dort immer noch in Fabriken für niedrige Löhne, statistisch unerfasste Millionen auf Feldern und als Hirten; rund vierzig Millionen Kinder besuchen keine Schule. Gefordert wird die „Belohnung“ von Kindern, die die Schule besuchen – durch Bezahlung eines Mittagessens oder sogar des „entgangenen“ Tageslohns. Bleiben solche Maßnahmen aus, so wird das Kinderarbeitsverbot entweder nur pro forma ausgesprochen oder sich – kann man sagen: im „günstigen“ Falle seiner Implementation? – gegen die geschützten Kinder selbst wenden (Kämpchen 2006).

Wie weit lassen internationale NGO’s („Ingos“) auf solche Bedarfskonstellationen ein? (zu deren Zuwachs Take 2003: 253 ff.; Filzmaier et al., 2006: S. 276 ff.; Schörnig 2003: S. 68) Gewiss – es gibt NGO’s, die zu den Aktivisten z. B. für die Belohnung des Schulbesuchs in Indien gehören. Sie arbeiten auf den Feldern wie humanitäre Soforthilfe, Entwicklungspolitik, Menschrechte, Umwelt und Frieden. Aber wer sind die Ingos? Der „Atlas der Globalisierung“ (Le Monde Diplomatique, 2006) konstatiert, dass sie von den reichen Ländern dominiert sind: dort befinden sich 83% der Büros und 38% der Mitarbeiter. Sie arbeiten zunehmend in Osteuropa, Zentral- und Südasien, weniger im Nahen Osten und Nordafrika. Mit Ingos gehen „Gongos“ (von „government“ - staatlich organisierte), „Mongos“ (von „Mafia“ – zu betrügerischen Zwecken organisierte) und „Fongos“ (von „foreign“ – von ausländischen Geldgebern organisierte) NGO’s einher. „Die internationalen Aktivitäten von NGOs können also sowohl einer wirklich grenzüberschreitenden Solidarität nahe kommen, sie können aber auch zu einer Art von laizistischen Weltbeglückungsmission werden oder schlicht auf traditionellen politischen Lobbyismus hinauslaufen“ (aaO.: S. 74). Vor allem in den ehemaligen Ostblickländern sind NGO’s des Westens aktiv – und „festigen damit, ob sie wollen oder nicht, auch die Macht der USA“ (aaO.: S. 58/59).

In ihrer Arbeit über die feministischen Advokatennetzwerke im Umfeld der UNO, die wesentlich zur Umsetzung der Ziele der Weltfrauenkonferenz von Bejing 1995 beitrugen, stellt Barbara Finke (2005) gleichfalls eine deutliche westliche Dominanz  fest. „Alle drei Organisationen im Kern des feministischen Advokatennetzwerks haben ihren Sitz in (oder in der Nähe von) New York“ und werden „von professionellen Netzwerkmanagerinnern in den USA geleitet“ (aaO.: S. 141/139).

„Protektionismus wider Willen?“ meint die Frage, ob westlich dominierte Aktivitäten zugunsten universeller Rechte nicht in einen Kontext geraten (sind), der ihre Zielerreichung bedrohlich tangiert. Welche Ziele die USA ökonomisch, politisch, ökologisch, sozial und kulturell weltweit verfolgen, lässt sich beispielhaft an der – vom Scheitern bedrohten – sog. „Doha-Runde“ verfolgen. Den Hintergrund bildet eine sich verschärfende Ungleichheitslage zu Lasten des Südens der Erde: 25 von 188 Ländern der Welt kontrollieren zusammen 80% des Welthandels, 56 Länder repräsentieren jeweils weniger als 0,01% des Welthandels (Le Monde, 2006: S. 90); die Zahl der vom Zusammenbruch bedrohten Staaten ist von 2003 bis 2006 von 17 auf 26 gestiegen (FAZ 15. 09. 2006, S. 14); in den Entwicklungsländern sind durchschnittlich um 55% aller Beschäftigten im Agrarbereich tätig (EU 4,5%, USA 2%), die entwickelten Länder erhöhen seit Beginn des Jahrtausends die Agrarsubventionen wieder spürbar (EU seit 2001, USA seit 2003); die Agrarhandelsbilanz der ärmsten Länder der Welt hat sich seit Mitte der 80er Jahre in ein sich dramatisch vergrößerndes Defizit verwandelt (Le Monde 2006: S. 99).

Unter diesen Bedingungen ist die globale Ordnung des Agrarhandels für eine gerechtere Weltordnung ausschlaggebend. Die Doha-Runde zwischen EU, USA und sog. G 20-Staaten (u. a. Brasilien, Indien) scheitert aber derzeit gerade daran, dass die USA die Agrarsubventionen, die EU die Agrarzölle nicht effektiv senken wollen (FAZ 29.06.2006 und 3.07.2006; Le Monde 2006: S. 100/01). Auf dem Gebiet der Landwirtschaft blockieren sich die Zollsenkungsbereitschaft der EU (um 39% - gefordert werden von den USA 66%, von den G 20-Staaten 54%) und die Subventionssenkungsbereitschaft der USA (diese bieten 60% an – sichern aber deren Effektivität nicht gegen bloße Umschichtungen ab) wechselseitig. Bei Industriegütern wird besonders Schwellenländern wie Brasilien, China oder Indien eine Zollsenkung zur Marktöffnung abverlangt.

Was sich also seitens der westlichen Welt abzeichnet, ist Protektionismus auf dem Gebiet, wo die Entwicklungsländer Spieler auf dem internationalen Handel sein könnten, und Freihandel auf dem Gebiet, wo sie konkurrenzlos stehen.

Mit dieser gespaltenen Freihandelspolitik konvergiert – und das ist der Kontext, in den universelle Menschenrechtsdiskurse heute gestellt sind – die Forderung gerade der USA, in internationale Handelsabkommen Sozial- und (in geringerem Umfang) Ökologieklauseln zu stellen. Keine Bezüge zu sozialen Rechten bestanden im GATT-Abkommen 1947 (auch nicht in seiner Neufassung 1994). Während der Tokio-Runde 1973-79 unternahmen die USA einen solchen Versuch, scheiterten aber. Die gegenseitigen Vorwürfe des Sozialdumping und des Protektionismus überschatteten auch die Uruguay-Runde 1986 – 94. Dort wollten die USA das Problem – unterstützt von EU, nordischen Ländern, Schweiz, Kanada, Neuseeland, einigen osteuropäischen Ländern und Japan – wenigstens „untersuchen lassen“, aber ohne Einigung. Auf der WTO Ministerial Conference 1996 in Singapur wurde die Frage der Sozialstandards wiederum von den USA, Frankreich und Kanada auf die Tagesordnung gebracht. Die Ministerkonferenz verwies aber auf die ILO: „We reject the use of labour standards for protectionist purposes, and agree that the comparative advantage of countries, particularly low-wage developing countries, must in no way be put into question“ (Puth 2005: S. 641). Erneute Versuche der USA in den Ministerial Conferences in Seattle 1999, Doha 2001 und Cancun 2003 scheiterten. Die USA und die EU werden bei ihrem Streben nach Einbeziehung von Sozialstandards in das WTO-Regelwerk „angetrieben durch ihre nationalen Parlamente, Gewerkschaften und sonstige NGOs“ (Puth 2005: S. 641).

Genau dieser menschenrechtliche Bezug – der auf dem Gebiet einer entwicklungsfördernden Agrar- und Freihandelspolitik keine Entsprechung findet - muss für den Menschenrechtsdiskurs zu denken geben. Wenn die reichen Länder ihre Agrarmärkte direkt (über Zölle - EU) oder indirekt (über Subventionen - USA) den armen Ländern verschließen und zugleich sowohl die Märkte der armen Länder für ihre Industrie- und Dienstleistungsprodukte öffnen als auch dort menschenrechtlich gleiche Produktionsbedingungen durchsetzen wollen, dann hält das die armen Länder in ihrem ausgegrenzten Zustand.

Positionen von NGO’s oder auch Gewerkschaften, die allein auf die universelle Geltung von Sozialstandards pochen, laufen Gefahr, in diesem Kontext Protektionismus wider Willen zu entfalten oder zu unterstützen. Sie verleihen dann sozusagen dem politisch und ökonomisch hegemonialen Bestreben der Supermächte – vor Allem der USA, aber auch der EU - moralische und ethische Anerkennung, die diese auf dem Gebiet der Internationalen Politik und Wirtschaft allein nicht erlangen könnten. Sie tun dies, selbst wenn sie sich als oppositionell gegenüber den Trägern des politischen und ökonomischen Systems einstufen und ausweisen. Das macht die Dramatik und die Instrumentalisierbarkeit eines solchen Protektionismus wider Willen aus.

Nun besagt dieser Befund nicht etwa, dass man den Einsatz und den Kampf um internationale Sozialstandards fallen lassen müsse. Nur besagt er, dass nicht allein deren Universalität propagiert werden darf. Der Falle des Protektionismus wider Willen entkommt man nur, wenn man in einem Doppelschritt 1. die universelle Geltung grundlegender Sozialstandards und 2. die Befähigung (das „empowerment“) zu ihrer Implementation fordert, fördert und durchsetzt oder durchzusetzen hilft. Das genau meinten die Sätze im „Manifesto for Social Europe“: „Soziale Rechte sind universelle Rechte. Ihre Durchsetzung in den ärmsten Ländern der Welt allerdings verpflichtet die EU zur Solidarität. Wenn die EU erwartet, dass arme Länder universelle Normen achten, muss sie bereit sein, die Kosten zu übernehmen, die diese Länder weniger leicht tragen können.“

Es gibt Fälle, in denen dieser Doppelschritt sich ansatzweise vollzieht. Hepple (2005) hat auf zwei von ihnen hingewiesen. Im Textilabkommen zwischen den USA und Kambodscha wird ein sanfter Durchsetzungsmechanismus für die ILO-Kernarbeitsbestimmungen eingesetzt. Das Abkommen bietet Kambodscha eine Erhöhung der Einfuhrquoten an, wenn dafür ein Programm zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen (einschl. der Kernarbeitsrechte) tatsächlich umgesetzt wird. Die Aufsicht liegt bei einem von der ILO unterstützten Projekt, das von einem von der ILO ernannten technischen Berater geleitet und von einem tripartistischen Beirat gesteuert wird. Bis 2003 nahmen 200 Unternehmen in Kambodscha an dem Programm teil (Hepple 2005: S. 121/122).

Ein weiteres Beispiel stammt aus der EU im Verhältnis zu den AKP-Staaten. In dem neuen AKP-EU-Abkommen, das am 23. Juni 2000 in Cotonou, Benin, unterzeichnet wurde, finden sich einige Neuerungen, die sich auch auf das Wohlergehen in den sich entwickelnden Ländern beziehen. Der Bezug auf die Menschenrechte, auf ökonomische, soziale und kulturelle Rechte (neben zivilen und politischen Rechten), die Abwehr des „disguised protectionism“ und die darauf beruhende Strategie des Europäischen Rates ist verbunden mit „kapazitätsbildenden und kooperativen Programmen statt mit negativen Sanktionen.“ (Hepple 2005: S. 126, auch S. 128).

Eines ist klar: Das Insistieren auf der praktischen Geltung universeller Rechte kostet Geld. Und das kann unter den gegebenen Bedingungen nicht das Geld der Schwellen- und Entwicklungsländer – sondern muss das Geld der entwickelten Welt sein. Wissen – und wollen – das Alle, die sich für Sozialstandards und für universelle Menschenrechte einsetzen?

Literatur

Bercusson, B., et al. 2001:

Filzmaier, P./Gewessler, L./Höll, O./Mangott, G., 2006: Internationale Politik, Wien: WUW.

Finke, B., 2005: Legitimation globaler Politik durch NGOs. Frauenrechte, Deliberation und Öffentlichkeit in der UNO, Wiesbaden: VS.

Hepple, B., 2005:

Hilf, M./Oeter, St. (Hg.), 2005: WTO-Rechtsordnung des Welthandels, Baden-Baden: Nomos.

Kämpchen, M., 2006: Belohnter Schulbesuch. Ein Verbot allein genügt nicht: Kinderarbeit in Indien, in Frankfurter Allgemeine Zeitung10. 08. 2006.  

Le Monde Diplomatique (Hg.), 2006: Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, Berlin: taz-Verlags- und Vertriebs-GmbH.

Puth, S., 2005: WTO und Sozialstandards, in Hilf/Oeter, S. 637 – 646.

Schieder, S./Spindler, M. (Hg.), 2003: Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen: Leske + Budrich.

Schörnig, N., 2003: Neorealismus, in: Schieder, S./Spindler, M., S. 61 – 88.

Take, , I., 2003: Weltgesellschaft und Globalisierung, in: Schieder, S./Spindler, M., S. 253 – 278.

 




[1] Die ILO hat 1998 entschieden, dass sog. Kernarbeitsnormen (Koalitions- und Tarifverhandlungsfreiheit, C.87 und C.98, Zwangsarbeit, C.29 und C.105, Nichtdiskriminierung, C.100 und C.111, Mindestalter von Beschäftigung, C.138, und – seit 1999 - Verbot der Kinderarbeit, C.182) in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gelten sollen – unabhängig von der nationalen Ratifizierung.